Otavalo.
Am Sonntagvormittag lassen uns unsere Gastgeber alleine. Wie sie uns erzählt haben, gehören sie der Glaubensgemeinschaft der Mormonen an und besuchen selbstverständlich den mehrere Stunden währenden Gottesdienst. Vor vier Jahren haben wir bei einer USA-Reise auch Utah mit seiner Hauptstadt Salt Lake City besucht, wo die Mormonen die deutliche Mehrheit der Bevölkerung stellen. Von dort haben wir den Eindruck mitgenommen, dass die Menschen in jederlei Hinsicht, auch politisch, sehr konservative Ansichten haben. Das passt jedoch gar nicht zu dem, was uns der an Politik sehr interessierte Gastvater Eduardo beim Frühstück erzählt. Er lobt nämlich ausdrücklich die gewaltigen Fortschritte im Wirtschafts- und Sozialsystem, die Ecuador gemacht hat, seit 2007 der noch amtierende, linksgerichtete Präsident Rafael Correa das Amt übernommen hat.

Vormittags haben wir Gelegenheit, uns mit den sechs niedlichen Hunden, darunter drei süße vierwöchige Welpen, zu beschäftigen. Anschließend unternehmen wir zum Mittagessen einen Spaziergang in die Stadt, die heute im Vergleich zu gestern fast ausgestorben wirkt, obwohl einige Läden auch sonntags geöffnet haben. Wir entscheiden uns für ein einheimisches Lokal, das für sagenhafte 2,50 Dollar ein üppiges Mittagsmenü bietet und noch dazu in einem Innenhof Plätze unter freiem Himmel hat – für Ecuador ungewöhnlich. Serviert wird typische ecuadorianische Küche: Yaguarlocro, eine Kartoffelsuppe mit Lammfleisch und -innereien, und als Hauptspeise wahlweise Seco de Chivo (eine Art Gulasch vom Ziegenfleisch) oder Pechuga Apanada, die unserem Gaumen eher vertraute panierte Hähnchenbrust.

Für drei Uhr nachmittags haben uns unsere Gastgeber zu einem Ausflug eingeladen. Mit dem eigenen Auto ist das allerdings nicht möglich: Wie so viele Ecuadorianer besitzt auch Familie Iza Fiallos kein Fahrzeug. Stattdessen wird ein Taxi bestellt, mit dem Leonor und Eduardo zusammen mit uns hinaus ins nur zwei Kilometer entfernte, bis auf ein paar Hippies aus Argentinien und Chile ausschließlich von Indigenen bewohnte Dorf Peguche fahren.

Eduardo hat uns erzählt, dass wir einen Spaziergang zu einem Wasserfall machen werden – weil es ein bisschen bergauf geht, spricht er scherzhaft von „Extremsport“. Überhaupt erzählt unser Gastvater sehr viel über Politik, Kultur und Natur: Das alles auf Spanisch, und wir sind erstaunt, dass wir dem Redefluss im Großen und Ganzen einigermaßen folgen können. Wobei es schwierig wird, wenn Eduardo im Redeeifer sein anfänglich gemessenes Sprachtempo nach und nach erhöht…

Der kleine Waldspaziergang wird zu einem hochinteressanten Streifzug durch die Geschichte und Lebensweise der indigenen Otavalos, nach denen die Stadt benannt ist. Wir kommen an Höhlen vorbei, in denen die Vorfahren der heutigen Bewohner vor Jahrhunderten gekocht und gewohnt haben. Überraschenderweise treffen wir hier auf viele Eukalyptusbäume: Sie wurden vor etwa 100 Jahren aus Australien eingeführt und fanden hier offensichtlich beste Wachstumsbedingungen.

Vom lustig plätschernden Bach wurde ein Bewässerungskanal abgezweigt, der uns sehr an die Levadas auf Madeira erinnert. Um das Wasser auf die andere Talseite leiten zu können, wurde sogar extra eine Brücke für den Kanal gebaut, über die wir breitbeinig spazieren können.

Es gibt auch zwei gemauerte Wasserbecken. Das größere ist eine Art Freibad, in dem die Dorfjugend fröhlich plantscht, während Erwachsene gleichzeitig darin Wäsche waschen. Das andere dagegen hat spirituellen Charakter: Es enthält kein Flusswasser, sondern wird von einem Brunnen gespeist. Dieses Wasser symbolisiert für die Indigenas das Blut der Pachamama genannten Mutter Erde. Alljährlich am 23. Dezember werden hier spirituelle Waschungen durchgeführt, die Geist und Seele reinigen sollen.

Am Peguche-Wasserfall selbst herrscht Hochbetrieb. Einheimische, Ausflügler und auch ein paar Touristen strömen am Sonntagnachmittag hierher, um das schöne Panorama zu genießen, Fotos zu schießen und im kalten Wasser des Gebirgsflusses zu waten.

Da wir eine Runde laufen, bietet der Rückweg noch einige Überraschungen. Zuerst kommen wir an einem besonders dicken, knorrigen Baum vorbei. Er wird im überlieferten Glauben als Baum der Fruchtbarkeit verehrt, an dem Frauen um Nachwuchs beten. Anschließend sehen wir das mit zahlreichen verschiedenfarbigen Fahnen geschmückte Anwesen eines Schamanen. Erneut drängen sich Vergleiche zu früheren Reisen auf: Auf Bali besuchten wir eine Höhle, die der Göttin der Fruchtbarkeit geweiht war, in Bhutan wehten vor jedem Tempel ähnlich aussehende bunte Fahnen.

Schließlich erreichen wir das Dorf Peguche selbst. Ein Teil des Ortes ist heute eine Art Freilichtmuseum mit zahlreichen Verkaufsständen. Es wird jedoch beileibe nicht nur Kitsch angeboten, sondern viel hochwertiges Kunsthandwerk. Eduardo spricht einen indigenen Verkäufer an, der uns gerne die Bedeutung einer besonders sorgfältig bearbeiteten Wollmaske mit zwei Gesichtern und zwölf verschiedenfarbigen Fransen erklärt. Die Fransen symbolisieren die Monate und Jahreszeiten, die beiden Seiten der Maske stehen für das Gute und das Böse, das jedem Menschen innewohnt. Angeblich gelang es den Otavalos vor vier Jahrhunderten, mit der „bösen Seite“ der Maske die Frauen der spanischen Kolonialherren zu Tode zu erschrecken. Die sollen ihre Männer sodann erfolgreich beschworen haben, sich aus dieser verhexten Gegend zurückzuziehen – was den Stamm vor der endgültigen Unterwerfung und möglicherweise der Ausrottung bewahrte.

Ein Höhepunkt des Museumsdorfs ist der Nachbau eines Sonnenkalenders. Dabei handelt es sich um einen ausgedehnten Rundbau, deren Mauern mit zahlreichen Vertiefungen und Zinnen geschmückt ist. Das ist nicht nur hübsch anzusehendes Dekor: Wenn man in der Mitte steht und laut spricht, entfaltet sich eine unglaubliche Akustik. Die eigene Stimme hallt vielfach verstärkt zurück!

Auf die Spanier sind die Indigenas auch heute noch nicht gut zu sprechen. Mehr als verständlich, wenn man sich überlegt, mit welcher Rücksichtslosigkeit und Brutalität die Iberer gegen die in ihren Augen unzivilisierten Wilden vorgegangen sind. Eine alte Verteidigungsmauer, 1613 von versklavten Ureinwohnern in Peguche errichtet, forderte zum Beispiel den Tod hunderter Unschuldiger.

Zurück nach Otavalo geht es zu Fuß – angesichts der geringen Entfernung kein Problem. Um den Weg abzukürzen, laufen wir ein Stück auf den Schienen einer erst vor wenigen Jahren sanierten Bahnlinie entlang. Bei uns zuhause unvorstellbar – hier kein Problem: Es fährt ohnehin nur dreimal pro Woche ein Zug, erklärt uns Eduardo.

Die Stadt Otavalo tut einiges fürs Stadtbild – bei einem Spaziergang durch eine Wohnsiedlung kommen wir an einem vor wenigen Jahren angelegten, gepflegten Park vorbei. Offiziell trägt er den Namen Parque Lineal, doch die Einheimischen nennen ihn aus gutem Grund Dinosaurier-Park. Mit viel Liebe zum Detail wurden Drahtgestelle bepflanzt, die die Umrisse gewaltiger Dinos nachzeichnen. „Der Jurassic Park von Otavalo“, witzelt Eduardo.

Montags steht wieder Spanisch-Unterricht auf dem Programm. Die Zweigstelle des Instituto Superior de Español in Otavalos Zentrum ist noch wesentlich kleiner als die Schule in Quito. Alles geht äußerst familiär zu. Unsere neue Lehrerin Isabel arbeitet sehr zielstrebig mit uns beiden – wir glauben, dass wir diese Woche noch einiges dazulernen werden! Trotzdem sind die vier Stunden bald vorbei, und wir verbinden das Mittagessen in einer netten Cafeteria mit einem Stadtbummel durch Otavalo. Dabei unterläuft Jana ein wirklich peinlicher Fauxpas: Sie wirft einer armen alten Frau aus Mitleid ein paar Cent in ihren Napf in der Annahme, der sei für Geld. In Wirklichkeit ist aber Suppe drin…

Ein Großteil der Menschen, denen wir in den Straßen begegnen, hat indigene Wurzeln. Das Leben geht wochentags seinen ruhigen, gemütlichen Gang. Da darf sogar einer der vielen herrenlosen Hunde der Stadt ungestraft ein Nickerchen mitten auf einer Kreuzung machen…

Wir nehmen uns die Zeit, noch einmal zum zentralen Parque Bolívar zu gehen. Hier reckt die nach einem Erdbeben um 1880 wiedererrichtete Kirche San Luis ihren Backsteinturm nach oben, und das neoklassizistische Rathaus wartet mit einer sehr repräsentativen Fassade auf.

Der größte Sakralbau der Stadt ist die Kirche El Jordan. Was wie eine Perle aus der kolonialen Barockzeit aussieht, ist in Wirklichkeit noch ein relativ neues Gebäude aus den Jahren 1963/64.

Vor den Toren der Innenstadt liegt ein weiterer schöner Park: der Parque Rumiñahui, einem Inka-Heerführer gewidmet, der 1535 von den spanischen Konquistadoren hingerichtet wurde, weil er sich geweigert hatte, zu verraten, wo der sagenumwobene Schatz des letzten Inka-Königs Atahualpa verborgen lag.

Der Heimweg in unser Domizil in der Calle Francisco de Aranjo führt zwangsläufig über die Panamericana: Die legendäre Verbindung von Alaska bis Feuerland (die übrigens zwischen Panama und Kolumbien immer noch eine Lücke, Darién Gap genannt, aufweist) verläuft direkt durch Otavalo. Und hier heißt es jetzt noch Hausaufgaben für morgen machen – Lehrerin Isabel wird die garantiert genau kontrollieren…


Hallo, ihr zwei!
In der kurzen Zeit konntet ihr nun schon einige Eindrücke gewinnen. Das ist so viel, dass man meint ihr wärt schon ewig dort…… Echt super interessant und man hat ein wenig das Gefühl, mit euch zu reisen…
LG
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Genau das Gefühl haben wir auch! Kaum zu glauben, dass wir erst eine Woche da sind! Und wir nehmen euch gerne weiter mit auf unserer Tour…!
LG Jana und Wolfgang
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Hi ihr zwei,
Ich freue mich schon immer wenn ihr einen neuen Beitrag einstellt!!!
Man hat echt das Gefühl irgendwie mitreisen zu können!
Alls Gute weiterhin!
LG Karin
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Hallo Karin,
schön, dass du dir Zeit nimmst, unsere ersten Erlebnisse in Ecuador mitzuverfolgen! Wünschen dir auch noch schöne Ferien und werden in Vilcabamba natürlich deine Grüße ausrichten! Freuen uns jetzt schon darauf!
LG Jana und Wolfgang
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