Cuenca.

Gestern hat es bis in die Nacht hinein geregnet. Und für heute sind die Wetterprognosen auch nicht ganz eindeutig. Deswegen entscheiden wir uns dafür, nicht – wie ursprünglich überlegt – zu einer Wanderung in den Cajas-Nationalpark aufzubrechen, sondern einen Tagesausflug zur wichtigsten archäologischen Stätte Ecuadors, nach Ingapirca, zu unternehmen. Der Ort liegt etwa 80 Kilometer nordöstlich von Cuenca. Mit dem Regionalbus, der an jedem zweiten Kuhstall hält, um Leute ein- und aussteigen zu lassen und unterwegs auch noch zweimal von der Polizei kontrolliert wird, dauert die Fahrt (einfach 3,50 Dollar pro Person) durch eine wunderschöne Landschaft, in der wir uns teilweise wie inmitten sattgrüner Allgäuer Bergweiden vorkommen, über zwei Stunden.

Sattgrüne Almweiden auf über 3.000 Metern in Ecuadors Anden
Sattgrüne Almweiden auf über 3.000 Metern in Ecuadors Anden

An der Kasse erleben wir eine positive Überraschung: Statt – wie im Reiseführer und auch in einem Info-Blatt der Stadt Cuenca angekündigt – 6 Dollar müssen wir für den Eintritt nur 2 Dollar zahlen; der Preis, der eigentlich nur für Einheimische gelten soll. Zudem erhalten wir eine englischsprachige Führung – da verstehen wir natürlich deutlich mehr, und die Gruppe ist wesentlich kleiner: Außer uns sind es noch zwei Briten, zwei Russen und ein Ungar. Und wir haben einen kenntnisreichen einheimischen Guide, der uns mit viel Engagement und sehr verständlich die faszinierende Geschichte dieser Ruinenstätte nahebringt.

Überblick über die archäologische Stätte Ingapirca
Blick auf die archäologische Stätte Ingapirca

„Ingapirca“ ist ein Wort aus der Kichwa-Sprache und bedeutet „Inkamauer“. Doch die Ursprünge der Bauwerke, die an dieser Stelle errichtet wurden, liegen weit vor jener Zeit im 15. Jahrhundert, als die Inka von Peru aus ihr Reich bis ins heutige Chile und hinauf nach Kolumbien ausdehnten und dabei auch die auf dem Territorium Ecuadors lebenden Völker unterwarfen. Eines davon waren die Kañari, deren Hauptstadt Hatun Kañar (Groß-Kañar) genau hier lag. Dieses Volk verehrte den Mond als höchste Gottheit – die ersten Grundmauern, vor denen wir stehen, sind nach den Erkenntnissen der Wissenschaftler, die hier seit 1968 Ausgrabungen vornahmen, folgerichtig auch die Reste des Mondtempels.

Fundamente des Mondtempels - Zentralheiligtum der Kañari
Fundamente des Mondtempels – Zentralheiligtum der Kañari

Dahinter folgt ein Massengrab: Rund um das reich geschmückte Skelett einer Fürstin – der Mond als oberste Gottheit war weiblich, deswegen herrschten auch Frauen über das Kañari-Reich – wurden gut zehn weitere, in embryonaler Haltung verharrende menschliche Überreste gefunden. Starb die Herrscherin, so bedeutete das gleichzeitig das Lebensende für ihre Dienerinnen und Diener. Sie nahmen Gift zu sich und gaben ihre Körper an „Pachamama“, die Mutter Erde, zurück. Da die Kañari an die Wiedergeburt glaubten, war dies nicht das Ende, sondern der Beginn eines neuen Lebenszyklus – vergleichbar mit dem Samen einer Pflanze, den man in die Erde steckt.

Hier war eine Fürstin mitsamt ihrer Dienerschaft begraben
Hier war eine Fürstin mitsamt ihrer Dienerschaft begraben

Weitere, nur noch an den Umrissen der Grundmauern erkennbare Gebäude dienten zum Teil rituellen Reinigungsbädern der Priester, zum Teil waren es Werkstätten verschiedener Handwerker, was durch zahlreiche Funde z. B. von Textil- oder Keramikresten belegt werden konnte.

Handwerkerbereich von Ingapirca; in den Steinen im Vordergrund wurde Getreide gemahlen
Handwerkerbereich von Ingapirca; in den Steinen im Vordergrund wurde Getreide gemahlen

Hochinteressant ist ein großer Stein, in den genau 28 Mulden eingearbeitet sind: ein Mondkalender, denn der Erdtrabant bestimmte den Lebensrhythmus der Kañari. Auf den Mondzyklen basierte auch das Kañari-Jahr, in dem es 13 Monate gab: 28 mal 13 ergibt 364! Das entspricht bis auf einen Tag genau dem heutigen Wissen über die Länge eines Jahres. Dagegen war der frühere Sonnenkalender mit 12 mal 30 = 360 Tagen wesentlich ungenauer.

Mondkalender der Kañari mit 28 Vertiefungen
Mondkalender der Kañari mit 28 Vertiefungen

Zwischen den Ruinen grasen heutzutage Lamas; die ersten, die wir auf unserer nun doch schon einen Monat währenden Reise zu Gesicht bekommen.

Grasende Lamas direkt neben den Ruinen
Grasende Lamas direkt neben den Ruinen

Der zentrale, auffälligste und am besten erhaltene Bau des gesamten Komplexes steht auf einem kleinen Hügel, der schon für die Kañari als Beobachtungsposten von großer Bedeutung war. Er unterscheidet sich von den ausgegrabenen Kañari-Grundmauern in zweierlei Hinsicht: Zum einen wurde für ihn wesentlich dunkleres Vulkangestein verwendet, außerdem sind die einzelnen Bausteine genauestens zueinander passend bearbeitet, sodass keinerlei Lehm oder Mörtel notwendig waren, um die Mauern stabil und sogar erdbebensicher zu machen – die typische Bautechnik der Inka. Sie errichteten hier einen Sonnentempel, denn die Sonne war für sie die höchste Gottheit. Allerdings adaptierten sie auch Elemente der einheimischen Kañari-Kultur: Da der Mond im Inka-Glauben das zweitwichtigste göttliche Wesen war, nutzten sie den Mondtempel weiter. Und im Unterschied zu allen anderen bekannten Inka-Bauwerken ist der Sonnentempel von Ingapirca nicht rechteckig, sondern oval – eine Bauform, die ursprünglich von den Kañari in Anlehnung an die runde Form des Mondes verwendet wurde.

Zentralbau von Ingapirca - der Sonnentempel
Zentralbau von Ingapirca – der Sonnentempel

Der Tempel ist exakt nach Ost und West ausgerichtet: Drei Nischen in den jeweiligen Seitenräumen sind genau dort postiert, wohin die Sonne beim Auf- bzw. Untergang am 21. März, 21. Juni, 21. September und 21. Dezember ihre ersten und letzten Strahlen sendet. Wichtiger Unterschied zur Kañari-Kultur: Der Inka-Kalender basierte auf dem Lauf der Sonne, er gab damit auch vor, wann es Zeit zum Aussäen, zum Ernten und für hohe religiöse Feiertage war.

Die Nischen in der Wand dienten der Bestimmung des Wechsels der Jahreszeiten
Die Nischen in der Wand dienten der Bestimmung des Wechsels der Jahreszeiten

Wir haben noch ein bisschen Zeit, ehe der Bus nach Cuenca zurückfährt. Unser Guide empfiehlt deswegen noch einen kurzen Spaziergang zur „Cara del Inca“ – einer Felsformation, die von der Seite betrachtet tatsächlich an menschliche Gesichtszüge erinnert und deswegen auch diesen Namen, auf Deutsch „Gesicht des Inka“, trägt.

Markante Felsformation - das Gesicht des Inkas
Markante Felsformation – das Gesicht des Inka

Als wir schließlich zurück in Cuenca sind, verbinden wir einen kleinen Stadtbummel mit einem Cafébesuch – und landen, gar nicht weit von unserem Hostel entfernt, im „Café Austria“. Der Name verspricht nicht zuviel: Auf der Speisekarte stehen unter anderem Wiener Schnitzel, Gulasch, Roulade, Sachertorte, Linzertorte, Gugelhupf und Erdinger Weißbier. Wir freuen uns allerdings über einen guten Eisbecher – meiner trägt den schönen Namen „Copa Mozart“, und über die stilvolle Einrichtung, zu der auch ein alpenländisches Motiv mit Lederhosen- und Dirndlträgern sowie der Kirche von Heiligenblut vor dem Großglockner-Massiv gehört. Und das tief in Ecuador…

Stilvoll eingerichtet: das Café Austria
Stilvoll eingerichtet: das Café Austria
Ein alpenländisches Motiv schmückt die Wand...
Ein alpenländisches Motiv schmückt die Wand…