Vilcabamba.
In Cuenca haben wir bis mittags um halb zwei Zeit, ehe es weitergeht Richtung Vilcabamba. Also bummeln wir vormittags noch einmal durch die Altstadt und schauen uns dabei die Neue Kathedrale genauer an. Von außen beeindruckt der mächtige Bau durch die beiden großen blauen Kuppeln.

Innen entfaltet sich ein hohes, feierlich wirkendes, aber nicht überladenes Kirchenschiff in neoklassizistischem Stil. Für uns europäische Besucher erst einmal ungewohnt, aber sehr schön: Über die Lautsprecher ist entspannende, vom wunderschönen Klang der Panflöte getragene Musik zu hören.

Vor einem Hostel in der Altstadt fährt um 13.30 Uhr ein privater Shuttle-Bus der Hosteria Izhcayluma nach Vilcabamba ab. Wir sind schon einige Minuten früher da und staunen dann, dass sich eine immer größere Gruppe hier versammelt: Wollen die etwa alle mitfahren? 13 Plätze bietet der Kleinbus, und die sind tatsächlich komplett reserviert. Pech für ein junges Mädel, das spontan mitfahren wollte – sie muss wieder raus und umplanen. Für 15 Dollar pro Person bringt uns der Fahrdienst in mehr als viereinhalb Stunden durch eine traumhafte Berglandschaft gut 250 Kilometer nach Süden. Als wir Vilcabamba erreichen, bricht bereits die Dämmerung herein.

Schnell stellen wir fest, dass wir hier in einer richtigen Wohlfühloase angekommen sind: Das „Izhcayluma“, ein Kichwa-Wort für „zwei Hügel“, der alte Flurname dieser Gegend etwa zwei Kilometer südlich des Ortes, hat neben dem zentralen Rezeptions- und Restaurantbereich zahlreiche Wohnbungalows zu bieten; außerdem eine Bar, einen Pool, eine auf dem weitläufigen Gelände abseits am Berghang liegende offene Yoga-Halle, kleine Wanderwege, einen Stellplatz für Wohnmobile… das alles eingefügt in die ursprünglich gelassene lichte Strauchlandschaft – wunderschön!

Auch das Zimmer ist super: Geräumig, mit eigener Terrasse, auf dem eine Hängematte angebracht ist. Hier lässt es sich wirklich aushalten! Gut, dass wir gleich vier Nächte gebucht haben.

Als wir im Restaurant die Speisekarte durchlesen, bleiben wir auf der Seite mit den deutschen Gerichten hängen. Die Besitzer Dieter und Peter Schramm stammen ja aus Monheim, und wir sind nicht zuletzt deswegen hierher gekommen, weil uns meine Kollegin Karin, die nur ein paar Häuser von den Schramms entfent aufgewachsen ist und die beiden natürlich gut kennt, den Tipp gegeben hat, in Ecuador im „Izhcayluma“ Station zu machen. Es ist nach einem Monat auch mal wieder schön, Käsespätzle oder Gulasch mit Semmelknödeln zu essen – besonders, wenn es so gut schmeckt! Das ecuadorianische Personal hat die deutschen Rezepte wirklich verinnerlicht!

Das Restaurant ist fast komplett besetzt; wir finden zwei Plätze an einem Tisch, an dem bislang nur ein junger Mann sitzt. Er wirkt schon optisch exzentrisch: Auf seinem Strohhut steckt eine rote Sonnenbrille mit herzförmigen Gläsern, außerdem ist da die Aufschrift „The little Clown“ zu lesen. Das ginge ja noch… aber dann erzählt uns der Kanadier aus Vancouver, dass er als reimender Aktivist unterwegs ist, der damit Kinder ansprechen, zum Weiterreimen veranlassen und damit ihr Bewusstsein verändern will („Revolution in den Köpfen“) und dass er in Vilcabamba die besonderen Schwingungen empfängt, die von diesem Ort ausgehen. Wir sind hier im „Tal der Hundertjährigen“; Esoteriker erklären sich die angeblich besondere Langlebigkeit der Einheimischen durch spezielle Energieströme dank negativ geladener Ionen, die hier fließen. Und mit so einem sitzen wir gerade am Tisch… Prompt fragt er uns, ob wir „nur“ normale Touristen sind oder auch auf der Suche nach den magischen Kräften im Ort. Wir müssen ihn gleich zweifach enttäuschen: Wir sind keine Sinnsucher, sondern einfache Reisende. Außerdem beäugt er etwas angewidert den Teller mit Gulasch – Veganer sind wir also auch nicht, im Gegensatz zu ihm.

Zum Glück trollt sich der Kauz dann bald von dannen. Wir wollen noch in Ruhe unser Bier austrinken, da kommt ein holländisches Ehepaar, das mit uns zusammen von Cuenca angereist ist, ins Restaurant. Wir bieten ihnen an, sich zu uns zu setzen – und bleiben dann noch ziemlich lange sitzen. Marga und Harry aus Den Haag sind ausgesprochen sympathisch; wir freuen uns richtig, sie kennenzulernen, tauschen uns über unsere bisherigen Reiseerfahrungen aus und stellen fest, dass die beiden wie wir weiter nach Peru wollen. Sie sind seit vier Wochen unterwegs und haben insgesamt zehn Wochen Zeit – als Endfünfziger haben sie ihre Altersermäßigungen für einen langen Urlaub angespart.
Am Morgen geht Jana um halb acht zu der kostenlosen Yoga-Stunde, die hier täglich angeboten wird. Ich wundere mich schon, wo sie so lange bleibt und mache mich auf den Weg, um sie zu suchen – da kommt sie mir entgegen. Sie hat nach dem Yoga im Restaurant die Holländer getroffen und von ihnen eine sehr traurige Nachricht erhalten: Margas 54 Jahre alter Bruder ist bei einem Radausflug in Deutschland ganz plötzlich vom Fahrrad gestiegen, zusammengebrochen und war auf der Stelle tot. Jetzt ist das Paar natürlich ziemlich durcheinander, telefoniert mit der Familie und mit einer Versicherung, die sofort daran arbeitet, den für Ende Oktober geplanten Rückflug so schnell wie möglich zu bewerkstelligen. Bald ist die Information da: Der Flug geht am Sonntagabend von Guayaquil aus direkt nach Amsterdam; um rechtzeitig am Flughafen zu sein, müssen die beiden gleich ihre Koffer packen, nach Cuenca zurückfahren, dort übernachten und am Sonntagvormittag weiterreisen nach Guayaquil. Betrübt müssen wir uns von den so angenehmen neuen Bekannten verabschieden und können ihnen nur eine reibungslose Heimreise wünschen.
Wir lassen es anschließend ruhig angehen. Direkt von unserer Terrasse aus hat man einen herrlichen Panoramablick auf die Berge, und über das hügelige Gelände ziehen sich ausgedehnte Spazierwege, auf denen man bummeln kann.

Wir entscheiden uns dafür, einen dieser Wege zu gehen. Allerdings verfehlen wir einmal den richtigen Pfad und landen auf einem Weg, der nach einigen Serpentinen im Gebüsch endet – davor steht ein Auto und ein Baufahrzeug; vier Männer sind mehr oder weniger intensiv mit Planierarbeiten beschäftigt. Wir fragen sie, wo der Wanderweg weitergeht; der ältere Señor läuft mit uns ein bisschen durchs Gebüsch, zeigt dann nach unten auf einen Pfad und erklärt uns bei der Gelegenheit gleich, dass er hier mit seinen Söhnen ebenfalls eine Hostería errichten will. Er freut sich, dass wir aus Deutschland nach Vilcabamba gekommen sind und macht auf die gesunde Luft, das mineralreiche Wasser und das ganzjährig milde Klima aufmerksam – nachvollziehbare Gründe für die angepriesene Langlebigkeit der Einwohner.

„Schaut mal da rüber zum Mandango!“ weist er auf die markante Felsformation, die sich über Vilcabamba erhebt. „Seht euch das Profil an: Das ist doch eindeutig das Gesicht eines Inka!“ Kann man durchaus so sehen – schon wieder! Hatten wir ja erst vor zwei Tagen in Ingapirca…!

Anschließend laufen wir hinunter ins Dorf. Von allen Seiten umrahmt von den Bergketten der Anden, liegt Vilcabamba auf knapp 1.700 Meter Meereshöhe äußerst idyllisch. Der Fußmarsch dauert eine halbe Stunde, dann sind wir im Zentrum. Das besteht eigentlich nur aus dem überall zu findenden rechteckigen Park, hier Plaza de Armas genannt, und den vier Straßenzügen, die ihn begrenzen.

Auffälligstes Bauwerk ist die Pfarrkirche, die mit ihrem bunten Turm das Ortsbild bestimmt. Die kleinen Läden, Cafés und Restaurants sind ganz auf den Tourismus eingestellt, der sich hier seit den 1970ern, als die Kunde vom „Tal der Langlebigkeit“ hinaus in die Welt drang, entwickelt hat. Dass einige Alt-Hippies und Esoteriker geblieben sind, sieht man am Angebot und am Stil der Shops.

Mittlerweile leben aber auch eine ganze Reihe von pensionierten US-Amerikanern in Vilcabamba – sie wollen in dieser besonderen Umgebung gesund alt werden. Nicht zur ungetrübten Freude der Einheimischen; die Neubürger treiben die Grundstückspreise gewaltig in die Höhe und sind häufig auch nach Jahren der spanischen Sprache noch überhaupt nicht mächtig.

Beim Abendessen setzt sich der Wirt Dieter zu uns an den Tisch. Ein äußerst unkomplizierter, umgänglicher Mann in unserem Alter, der sich sichtlich über uns Gäste aus seiner alten Heimat freut, die die Empfehlung noch dazu von unserer gemeinsamen Bekannten Karin erhalten haben. Und der es zurecht als Kompliment für seine Hostería wertet, dass wir ihn fragen, ob es möglich ist, noch eine Nacht länger zu bleiben. So schön wie hier, und das alles für einen wirklich angemessenen Preis, werden wir es so schnell nicht wieder finden! Man spürt es in vielen Details: Die Gäste sollen sich hier wohl fühlen. Natürlich muss sich der Betrieb rechnen; aber den beiden Brüdern geht es nicht darum, einen möglichst hohen Profit herauszuschlagen.

Das Gespräch mit ihm wird zu einer mehr als abendfüllenden Angelegenheit. Wir reden über Gott und die Welt und stellen fest, dass wir eine sehr ähnliche Sicht der Dinge haben. Dieter und sein Bruder Peter, der gerade für ein paar Tage außer Haus ist, sind schon immer sehr gerne gereist und haben sich schließlich dazu entschlossen, hier in Ecuador ins Gastgewerbe einzusteigen – daheim wurden sie von vielen belächelt und manche warteten auch nur darauf, dass das Projekt schiefgeht. Aber sie haben klein angefangen und die zehn Hektar große Anlage in den letzten 15 Jahren stetig erweitert; heute haben sie eine hohe Auslastungsrate, motiviertes und sachkundiges einheimisches Personal und immer wieder neue Ideen. Der Yoga-Pavillon etwa steht erst seit zwei Jahren auf dem Gelände; Dieter ist selbst überrascht, wie gut dieses Angebot von den Gästen angenommen wird.

Für ihn ist das nichts, bekennt er freimütig; er ist halt ein rustikaler Bayer, der seine Dehnübungen lieber mit dem Bierglas in der Hand absolviert. Und uns einlädt, mit ihm hinunter in die etwas hangabwärts vom Restaurant gelegene Bar zu gehen – der Anfang einer langen und alkoholhaltigen Nacht. Dieter spendiert ein Getränk nach dem anderen, ablehnen kommt gar nicht in Frage… es ist sage und schreibe drei Uhr nachts, als wir schließlich unser Bungalow aufsuchen. Schwerer Einsatz…!
