Cajamarca.
Es ist noch dunkel, als am Montagmorgen um 4.50 Uhr der Wecker läutet. Aber uns bleibt keine Wahl: Wollen wir die geplante Etappe von Chachapoyas nach Cajamarca tagsüber hinter uns bringen, müssen wir spätestens um dreiviertel sechs am Busbahnhof sein – um sechs Uhr geht es nämlich bereits los. Eigentlich möchte man es nicht glauben, dass für eine Strecke von etwa 320 Kilometern über elf Stunden veranschlagt werden – doch wir werden in den folgenden Stunden noch sehen, warum. Zum Glück sind wir rechtzeitig am Terminal: Der Hostelbesitzer hat zwar bei der Busgesellschaft angerufen und zwei Plätze auf der rechten Seite für uns reserviert (wegen der besseren Aussicht), doch am Schalter weiß man davon nichts. Aber es sind noch nicht alle Plätze vergeben, also bekommen wir die Tickets, und zwar sogar noch für die gewünschte Seite.

Der Bus startet pünktlich. Die ersten gut zwei Stunden geht es den Utcubamba entlang flussaufwärts. Heizung? Fehlanzeige – es ist ganz schön kalt im Bus, trotz drei Schichten im Zwiebel-Look wird uns nicht richtig warm. Zum Glück gibt’s in Leymebamba, ganz oben im Utcubamba-Tal, eine Frühstückspause. Der Kaffee tut gut; und danach beginnt eine gut dreistündige Passage, die zu den spektakulärsten Straßenverbindungen zählt, die wir jemals irgendwo erlebt haben. Zunächst kurvt unser 3oer-Bus (ein regulärer Bus mit 50 Sitzplätzen hätte hier keine Chance) die schmale, einspurige Passstraße vom 2.200 Meter hoch liegenden Leymebamba etwa eine Stunde bergauf. Es geht höher und höher, die Vegetation wird immer karger, bis wir irgendwo in den Wolken verschwinden: Kein Wunder, die Abra de Barro Negro führt bis auf 3.678 Meter hinauf!

Als wir dann wieder bergab fahren und allmählich wieder aus dem dichten Nebel auftauchen, bekommen wir den Mund nicht mehr zu vor Staunen: Es entfaltet sich eine grandiose Bergwelt vor unseren Augen, ein majestätisches Panorama, das seinesgleichen sucht!

Beinahe zwei Stunden braucht der Bus für die Abfahrt – wir ziehen sämtliche Hüte vor dem Fahrer, der hier absolute Höchstleistung vollbringen muss. Die Bremsen werden gnadenlos beansprucht; Schwindelfreiheit ist Grundvoraussetzung, denn über weite Strecken gähnt rechts von uns ein kilometertiefer Abgrund, und links droht der blanke Fels. Vor jeder Kurve wird die Hupe betätigt – wenn wirklich einmal Gegenverkehr kommt, dann muss der rückwärts fahren und irgendwo an einer etwas breiteren Stelle halten, damit sich die beiden Fahrzeuge anschließend langsam und vorsichtig aneinander vorbeitasten können.

Hier selber Auto fahren – nein danke!!! Wir malen uns aus, wenn wir auf so einer Strecke mit einem Wohnmobil unterwegs wären… da hoffen wir lieber auf die Fahrkünste und das Konzentrationsvermögen des Bus-Chauffeurs.

Je weiter wir hinunter kommen, desto wärmer wird es – zuerst ziehen wir die Jacke aus, dann auch den langärmeligen Pullover. Die Vegetation wird karger; bis auf einen Streifen unten im Tal, der ist üppig grün.

Es ist das Tal des Marañón; vom Wasser des Flusses profitieren Natur und Mensch, der hier intensive Landwirtschaft betreiben kann.

Nach fast 3.000 Metern Talfahrt erreichen wir im tropisch heißen Balsas eine Brücke, überqueren den Marañón – um anschließend sofort wieder bergauf zu fahren. Durch Halbwüste, von Kakteen und dürren Sträuchern bestanden, geht es erneut auf mehr als 3.000 Meter hinauf.

Erst dahinter wird die Strecke allmählich etwas „zivilisierter“, denn die Provinzstadt Celendín liegt nur gut 400 Meter tiefer in einer Hochebene.

Hier stoppt der Bus am betriebseigenen Terminal: alles aussteigen, bitte! Was wir nicht gewusst haben: Die letzten zweieinhalb Stunden können wir mit einem großen, komfortableren Bus auf einer gut ausgebauten Straße zurücklegen. Durch anfänglich üppig grünes, später wieder trockeneres Hochland erreichen wir spätnachmittags Cajamarca, eine fast 300.000 Einwohner zählende Regionshauptstadt.

Ein Taxi bringt uns ins Hostal Turismo, wo wir uns über ein geräumiges, sauberes Zimmer freuen. Außer einem Abendessen brauchen wir heute nach diesem einmaligen, aber anstrengenden Elfeinhalb-Stunden-Trip nur noch Ruhe.

Die Stadterkundung starten wir am nächsten Vormittag. Wie überall, so gibt es auch hier einen zentralen Platz, die Plaza de Armas, die im Falle von Cajamarca enorm groß ausfällt. Sie ist von vielen schönen Kolonialhäusern mit den typischen Holzbalkonen umgeben, außerdem von zwei Kirchenbauten, die durch ihre reichhaltigen Verzierungen an den Außenfassaden beeindrucken: Im Osten die Kathedrale, ihr gegenüber die Franziskanerkirche.

Während letztere über Kirchtürme verfügt, fehlen diese bei der Kathedrale genauso wie bei einigen anderen Kirchen der Stadt – Grund dafür ist angeblich, dass das Vizekönigreich Peru zur Kolonialzeit nicht genügend Geld zur Verfügung stellte.

Dass die Spanier auf dem südamerikanischen Kontinent dauerhaft Fuss fassten und fast den ganzen Erdteil in ihre Gewalt brachten, hängt übrigens entscheidend mit Ereignissen zusammen, die sich in den Jahren 1532 und 1533 hier in Cajamarca abspielten. Der Inka-König Atahualpa hatte in einem Bürgerkrieg seinen Bruder Huáscar besiegt und seine Residenz hier aufgeschlagen, da er die dem Lager Huáscars zugehörige bisherige Inka-Hauptstadt Cuzco hasste und grausam bestrafen ließ.

Die Spanier unter Francisco Pizarro, die bereits im Land waren, marschierten nun auf Cajamarca zu und nahmen im November 1532 Atahualpa gefangen. Er wurde im Cuarto del Rescate eingesperrt und ein halbes Jahr später von den Spaniern erhängt, obwohl er einen Raum einmal mit Gold und zweimal mit Silber als Lösegeld füllen ließ, so hoch er mit der ausgestreckten Hand reichen konnte.


Dieses Cuarto del Rescate ist heute das einzige noch erhaltene Bauwerk aus der Inka-Zeit in Cajamarca. Es liegt in einem Hinterhof unweit der Plaza de Armas, ist inzwischen von einem Schutzpavillon überdacht und darf nur von außen angesehen werden. Vor der Kasse fragt uns ein Fremdenführer, ob er uns eine englische Führung geben soll. Wir willigen ein und erfahren von ihm viele Details der verwickelten Zusammenhänge. Das Verhalten der Spanier war zweifelsohne ruchlos; andererseits war Atahualpa ein ebenso skrupelloser, grausamer Machthaber gewesen. Ich erinnere mich an die von Jakob Wassermann verfasste Erzählung „Das Gold von Caxamalca“ (eine veraltete Schreibweise von Cajamarca). Vor beinahe 40 Jahren habe ich sie im Deutsch-Unterricht als Lektüre gelesen. Wassermann stellt das Geschehen so dar, dass der Leser Atahualpa als „edlen Wilden“ sieht – wenn man die Geschichte genauer kennt, weiß man, dass das eine zu grobe Vereinfachung ist.

Unser Guide erklärt uns, dass die Eintrittskarte auch für den Conjunto de Belén, eine ehemalige Jesuitenkirche, und das angeschlossene Museum im ehemaligen Hospital des Konvents gilt. Er zeigt uns die reiche Innenausstattung der Kirche, die von Indigenen gestaltet wurde, bei der sie – ohne dass die spanischen Bauherren das wussten – als Verzierungen typische Symbole ihrer früheren Religion verwendeten, etwa die Raute, die die vier Himmelsrichtungen und damit den Sonnengott darstellt.

Im Museum sehen wir zahlreiche kunsthandwerkliche Ausgrabungsfunde, aber auch eine in einem Tongefäß konservierte Babyleiche oder die traditionelle Tracht der einheimischen Frauen mit Kopftüchern in drei verschiedenen Farben: gelb für die Ledigen, rot für die Verheirateten und grün für die Verwitweten.


Anschließend bietet uns der Guide an, uns auch noch zu einem Aussichtspunkt zu bringen. Wir verstehen zunächst etwas falsch und meinen, es handele sich um einen Kirchturm; in Wirklichkeit fahren wir mit einem Taxi hinauf zum Cerro Santa Apolonia, einem Hügel hoch über der Stadt mit einer kleinen, der Virgen de Fátima geweihten Kapelle. Hier genießen wir einen herrlichen Blick über die halbkreisförmig in einer 2.750 Meter hoch gelegenen Ebene liegende Stadt.

Als wir uns unten an der Plaza de Armas von unserem Stadtführer verabschieden, müssen wir aber dann doch schlucken: 50 Soles pro Person, das sind etwa 13 Euro, berechnet der Gute für die eineinhalb Stunden – weil es auf Englisch war, sei es teurer als auf Spanisch. Tja, wieder was gelernt: Das nächste Mal fragen wir garantiert vorher nach dem Preis!

Das ärgert uns zwar schon ein bisschen, aber unsere Reisekasse wird diese Ausgabe verkraften – zumal es ansonsten hier im Norden Perus wirklich günstig ist. Nachmittags drehen wir selbst noch einmal eine Runde durch die Stadt. Neben weiteren bemerkenswerten Kirchenbauten und zahlreichen schönen kolonialzeitlichen Häusern finden wir noch einiges Andere bemerkenswert. In einer Straße liegen zum Beispiel mindestens 15 bis 20 Optikerläden direkt nebeneinander. Woanders haben wir schon einen Käseladen nach dem anderen in unmittelbarer Nachbarschaft gesehen. Keine Ahnung, warum das so ist… irgendwie fühlen wir uns an die mittelalterlichen Zünfte in der Heimat erinnert, in der es auch eigene Gerbergassen, Bäckerstraßen und so weiter gab.

Außerdem sehen wir hier wieder viele traditionell gekleidete Indigene im Straßenbild, ganz im Gegensatz zu Chachapoyas. Besonders auffällig sind die alten, mit hohen Strohhüten gekleideten Kräuterweiblein, die ihre Waren in einem Bündel verschnürt durch die Straßen tragen und feilbieten. Atahualpas Erbe lebt auch nach fast 500 Jahren noch fort…
