Huaraz.

Ein entzündeter, schmerzender großer Zeh ist nicht gerade das, was man brauchen kann, wenn man eine Bergwanderung vorhat. Leider hat mich hier aber ein Gichtanfall ereilt – am Dienstag war deswegen nicht viel möglich, und so konnten wir für Mittwoch auch keinen Tagesausflug buchen. Jetzt ist die Entzündung aber dank eines in einer Apotheke in Huaraz gekauften Medikaments (und weiterer ernährungstechnischer Maßnahmen) soweit abgeklungen, dass wir zumindest eine kleinere Wanderung unternehmen können.

In unserem Hostel mit sehr hilfsbereiten Mitarbeitern und einem Inhaber, der aussieht wie Pep Guardiola, hat man für Touren der unterschiedlichsten Schwierigkeitsgrade und Längen immer gute Tipps parat. „Wandert doch hinauf nach Willkawaín! Nehmt am Markt einen Colectivo der Linie 20 und lasst euch bei El Pinar absetzen!“ Gesagt, getan: Wir müssen am Mercado zwar eine ganze Weile warten, bis das richtige Sammeltaxi kommt, aber schließlich geht es über kleine Strässchen und zusammen mit einem Mütterchen, das mit einem Sack Kräuter und einem Sack Meerschweinchen (lebend) zurück in sein Bergdorf fährt, hinauf.

Gesehen bei El Pinar: Schafe auf dem fußballplatz
Gesehen bei El Pinar: Schafe auf dem Fußballplatz

El Pinar entpuppt sich als eine Art „Compound“ – eine Wohnsiedlung der Besserverdienenden, von einem Wäldchen umgeben und von Sicherheitskräften bewacht. Dadurch sollten wir wohl besser nicht wandern; aber wohin dann? Eine Anfrage bei den freundlichen Security-Männern klärt das Problem. Um El Pinar herum erreichen wir ein Dorf namens Huanchac, in dem wir immer wieder mal bei den Leuten nachfragen, wohin wir denn genau laufen sollen. Ausschilderungen? Darauf braucht man hier nicht zu hoffen…

Waschtag am Fluss - Szene in Huanchac
Waschtag am Fluss – Szene in Huanchac

Zwar führt der Weg durchs Dorf ein bisschen bergauf, das ist aber kein großes Problem – gerade recht zum Akklimatisieren und zum Test, ob der Fuß durchhält. Die Herausforderung hier besteht vielmehr in der Begegnung mit der dörflichen Tierwelt: Schweine, Kühe oder Schafe sind es aber nicht, die uns beschäftigen – es sind die hundert Hunde! Obwohl wir mit Steinen ausgerüstet sind, passiert es mitten auf der Dorfstraße: Eine Mutter mit zwei kleinen Kindern und zwei kleinen Kläffern kommt uns entgegen. Jana will die Kinder gerade freundlich grüßen, da stürzt eines dieser Mistviecher auf sie zu – und rasend schnell hat er sie an einem Bein in die Wade und am anderen in die Kniekehle gebissen. Noch Glück, dass die Wanderhose von guter Qualität ist, kein Loch, nur ein bisschen Blut und der Abdruck des Gebisses im Bein. Weh tut’s trotzdem, und von nun schauen wir uns die herumlungernden Beller noch genauer an. Es gilt das Motto: Nur keine schlafenden Hunde wecken!

Übergangslos erreichen wir das Dorf Willkawaín; unser Ziel liegt aber ganz oben am Dorfende – wieder (ja, liebe Ariane, schon wieder…) eine frühgeschichtliche Ruinenstätte, diesmal überliefert aus der Blütezeit des Wari-Volkes (700 – 1100 n. Chr.). Wobei hier der Begriff Ruine eigentlich nicht richtig ist: Das Bauwerk ist noch komplett intakt. Die Erkenntnisse der Forscher besagen, dass es sich bei dem massiven, ohne Mörtelwerk aufeinandergeschichteten Gebäude wohl um ein Grabmal gehandelt hat. Die scheinbar einfache Bauweise hat übrigens den Erdbeben, die es hier immer wieder mal gibt, besser standgehalten als moderne Techniken…

Bestens erhaltenes Wari-Grabmal in Willkawain
Bestens erhaltenes Wari-Grabmal in Willkawaín

Es gibt drei Eingänge, die in die verschiedenen Ebenen von Willkawaín führen. Wir müssen uns gewaltig bücken, um durch die niedrigen Öffnungen hindurchzukommen. Innen bilden schmale Gänge ein unheimliches Labyrinth. Eine geheimnisvolle Unterwelt aus dunkler Vergangenheit!

Der Eingang ins Grabmal ist ein bisschen klein geraten...
Der Eingang ins Grabmal ist ein bisschen klein geraten…

Dieser „verhundsmaledeite“ Spaziergang – für den Rückweg ersparen wir uns weitere Köterattacken und nehmen ein Colectivo – ist aber nur ein gemütlicher Aufgalopp für die eigentliche Bergwanderung, die wir nun für den Donnerstag gebucht haben. Da heißt es zeitig aufstehen: Um fünf Uhr früh sollen wir unten an der Rezeption sein. Mit uns warten Marina und Christian, ein älteres Ehepaar aus Dresden, auf die Abholung. Wir haben sie schon in Huanchaco kennengelernt; sie sind sehr erfahrene Tourengeher – für uns eine gewisse Beruhigung, dass die beiden mit dabei sind, denn heute werden wir uns in Höhen vorwagen, in denen wir bisher noch nie unterwegs waren.

Mit Marina und Christian starten wir zu unserer Expedition
Mit Marina und Christian starten wir zu unserer Expedition

Ja, wenn es nur endlich losginge! Der Hostelmitarbeiter, der uns die Lunchpakete gibt, meint, es könne schon sein, dass es halb sechs wird… doch als diese Uhrzeit auch verstrichen ist, fragt er über Handy mal nach; nicht dass wir vergessen werden! Die 40 Soles pro Person haben wir ja gestern schon bezahlt! Schließlich klingelt es dann doch an der Tür, wir gehen hinaus – und staunen: Statt des erwarteten Colectivos steht ein 30er-Bus auf der Straße, die meisten Plätze sind schon belegt. Der Fahrer und Guide Edgar sammeln schon eine Dreiviertelstunde die Tourteilnehmer in ihren Hostels ein. Mit so einer Massenveranstaltung hatten wir nicht gerechnet. Gegen sechs Uhr verlassen wir dann endgültig Huaraz: Die Fahrt geht nordwärts in Richtung Huascarán-Nationalpark. Im kleinen Dorf Huashao gibt es um halb acht Frühstückspause – bei wunderschöner Morgensonne im Garten eines zum Lokal erweiterten Dorflädchens.

Frühstück im Garten bei Morgensonne
Frühstück im Garten bei Morgensonne

Ein besonderes Angebot auf der Karte stößt bei uns auf großes Interesse: Coca-Tee, zum Mitnehmen in Plastikflaschen abgefüllt. Der Trank der Wahl gegen Höhenkrankeit! Im Frühstück inbegriffen ist ein traumhafter Blick auf den wunderschön geformten, schneebedeckten Gipfel des 6.395 Meter hohen Huandoy.

Perfekt geformter Berggipfel des Huandoy
Perfekt geformter Berggipfel des Huandoy

Bereits im Nationalpark hält der Bus für einen Fotostop an: Im Llanganuco-Tal liegt auf 3.850 Metern die herrlich türkisfarbene Laguna Chinancocha, ein Gletschersee an den Flanken der Cordillera Blanca. Sie hat ihren Namen übrigens nicht, wie viele meinen, von den zahlreichen schneebedeckten Gipfeln, sondern wegen des hellen Granits, aus dem dieser Gebirgszug aufgebaut ist.

Herrlicher Bergsee: Der Chinancocha im Llanganuco-Tal
Herrlicher Bergsee: Der Chinancocha im Llanganuco-Tal

Die Bäume, die in diesen Höhenlagen wachsen, haben eine sehr eigentümliche rötliche, abblätternde Rinde. Sie werden als Polylepis bezeichnet und kommen in den Anden bis weit über 4.000 Meter vor.

Typischer Baum des Andenhochlands: der Polylepis
Typischer Baum des Andenhochlands: der Polylepis

Höhen, in denen bei uns in Europa in den Alpen nur noch ewiges Eis zu finden ist. Das gibt es auch hier im Huascarán-Nationalpark; doch auch hier sind die Gletscher von der Klimaerwärmung betroffen. 20 Meter pro Jahr schmelzen sie derzeit, erklärt uns Edgar, unser Guide.

Ein paar Minuten später haben wir den Startpunkt unserer Wanderung erreicht – auf gerade mal 3.900 Metern. Wir haben ehrlich gesagt schon ziemlichen Respekt vor dem, was da heute auf uns zukommt… Mit Ausnahme von Marina und Christian sind wir die mit Abstand ältesten Teilnehmer im ganzen Bus; kommen wir mit dieser Höhe, in der wir bislang noch nie unterwegs waren, zurecht? An der Ausrüstung soll’s jedenfalls nicht scheitern: Mit langer Unterwäsche, drei Jacken, Sonnenbrille, Mütze und Handschuhen sind wir für jedes denkbare Wetter ausgerüstet, genügend Wasser und Essen befinden sich ebenfalls in unseren Rucksäcken.

Startpunkt der Wanderung: ein reißender Bergbach
Startpunkt der Wanderung: ein reißender Bergbach

Gut, dass Edgar von vornherein sagt, dass jeder sein eigenes Tempo laufen soll. Und falls jemand wirklich Symptome der Höhenkrankeit verspürt, soll er auf keinen Fall den Helden spielen und lieber umdrehen: „Lagunen gibt es auf der ganzen Welt – dein Leben gibt es nur einmal“! Das nehmen wir uns auch fest vor und machen uns auf den sechs Kilometer langen Weg. Er führt zunächst durch ein breites, teilweise etwas sumpfiges Tal, in dem Kühe grasen, und geht dann in einen langsam, aber stetig ansteigenden Bergpfad über.

Zunächst wandern wir durch ein breites Hochtal
Zunächst wandern wir durch ein breites Hochtal

Mehrere hohe Wasserfälle begleiten uns.

Wasserfälle stürzen aus den Gletschern
Wasserfälle stürzen aus den Gletschern
Blick zurück ins Tal
Blick zurück ins Tal

Einige Male haben wir kleine, aber reißende Bergbäche zu durchqueren, und allmählich geben die Wolken auch immer öfter Blicke auf die sich aus den Sechstausendern herabreichenden Gletscherzungen frei.

Flussüberquerungen können zur Herausforderung werden!
Flussüberquerungen können zur Herausforderung werden!

Faszinierend dabei die vielfältige Vegetation in mehr als 4.000 Metern Höhe, die sich aus zahlreichen Sträuchern, Gräsern, Blumen und Moosen zusammensetzt. Ein Fest der Farben, Formen und Gerüche!

Tolle Hochgebirgsflora
Tolle Hochgebirgsflora

Bunte Pflanzenpracht...

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Langsam und gleichmäßig, Schritt für Schritt, kommen wir höher hinauf. Die Luft ist dünn, das Herz schlägt schneller, aber es geht besser voran als zuvor befürchtet. Nach zwei Stunden wird der Weg steiler, alles wird anstrengender. Dann sehen wir einen kleinen Bergsee, eher eine größere Lache – aber das ist noch nicht der, zu dem wir wollen!

Kleiner Bergsee auf dem Weg...
Kleiner Bergsee auf dem Weg…

Erst muss noch ein weiteres Hochtal durchschritten werden, und dann sehen wir schon, dass es zum Schluss richtig anstrengend wird: Es geht einen steilen Hang hinauf, und das auf viereinhalbtausend Metern!

Steiler Schlussanstieg...
Steiler Schlussanstieg…

Die Schritte werden noch einmal langsamer, die Lungen spüren die dünne Luft gewaltig, und zudem fängt es jetzt auch noch zu regnen an… aber mit Regenjacken, Regenhosen und Handschuhen kämpfen wir uns auch hier noch hoch und sehen plötzlich am Ende des Weges ein leuchtendes Blau: Wir sind nach dreieinhalb Stunden an der Laguna 69!

Türkisblau am Ende des Weges - die Laguna 69 ist in Sicht!
Türkisblau am Ende des Weges – die Laguna 69 ist in Sicht!

Ein seltsam klingender Name für einen See – doch die Erklärung ist einleuchtend: Als 1975 der Nationalpark gegründet wurde, lagen versteckt im Gebirge viele bis dahin unbenannte Seen; und die wurden einfach durchnummeriert.

„Blaues Wunder“ auf 4.625 Metern: Laguna 69

Trotz des schlechten Wetters strahlt das Gletscherwasser, gespeist von den Eismassen des dahinter aufragenden, nun aber in den Regenwolken verborgenen 6.108 Meter hohen Chacraraju, in einem unglaublich intensiven Türkis – neben der tollen Natur auf dem Weg einer der Gründe für die Beliebtheit dieses auf 4.625 Metern gelegenen Wanderziels. Ein neuer Höhenrekord für uns beide! Und wahrlich keine „normale“ Bergwanderung – ohne vorherige Akklimatisierung, das sagen alle, die sich damit auskennen, ist das nicht zu schaffen.

Geschafft! An der Laguna 69 auf 4.625 Metern!
Geschafft! An der Laguna 69 auf 4.625 Metern!

Was wir jetzt noch schaffen müssen: Im Dauerregen, der den Wanderpfad zu weiten Teilen in kleine Bäche verwandelt, gut zurückzukommen. Nicht unbedingt ein Vergnügen, aber in zweieinhalb Stunden haben wir auch die zweiten sechs Kilometer unfallfrei hinter uns gebracht und werden vom Busfahrer mit einem belebenden heißen Coca-Tee empfangen. Die zweieinhalbstündige Rückfahrt nach Huaraz nutzen wir zum Aufwärmen – ob allerdings die durchnässten Klamotten bis morgen früh, wenn wir mit dem Bus nach Lima weiterfahren, alle wieder getrocknet sind, ist unklar.

Rückweg im Regen...
Rückweg im Regen…