La Paz.
In Copacabana gibt es keinen Busbahnhof. Die Busse und Colectivos stehen einfach an der Plaza Sucre herum; die Busbegleiter rufen die Ziele aus, und bei ihnen kann man entweder direkt Tickets kaufen oder die Vouchers einlösen, die man in in einer der zahlreichen kleinen Reiseagenturen erworben hat. So haben wir es gemacht, weil wir nicht wussten, dass die Fahrkarten auch kurzfristig vor der Abfahrt – und um die Hälfte günstiger! – zu bekommen sind. Na ja; umgerechnet gut fünf Euro für die vierstündige Fahrt nach La Paz sind immer noch kein Wucherpreis…

Eine knappe Stunde fahren wir auf der Copacabana-Halbinsel durch eine abwechslungsreiche Berglandschaft, ehe wir in San Pedro de Tiquina die engste Stelle des Titicaca-Sees erreichen. Hier müssen alle Passagiere aus dem Bus aussteigen: Für 2 Bolivianos, also nicht einmal 30 Cent, bringt uns ein kleines Motorboot ans Ostufer nach San Pablo de Tiquina, während der Bus auf einer alten, klapprigen Fähre den Weg über den See antritt.

Beide – Bus und Passagiere – sind nach wenigen Minuten wieder an Land. Die Fahrt geht nun am Südteil des Titicaca-Sees (auch Wiñaymarka-See genannt) entlang; wir passieren zahlreiche kleine Dörfer und stellen überall das Gleiche fest: Die Bevölkerung versammelt sich praktisch komplett auf dem Friedhof. Heute ist Feiertag: Die Einheimischen begehen den „Día de los muertos“, das Allerseelenfest. Das Ganze läuft allerdings etwas anders ab als bei uns, denn hier bringt die Familie ein Picknick mit und setzt sich mit der Brotzeit ans Grab der Vorfahren. Indigener Ahnenkult und christliches Fest vermischen sich hier…

Als wir den Titicaca-See endgültig verlassen haben, zieht sich die Strecke, die immer wieder von Dauerbaustellen unterbrochen ist, durch die karge Landschaft des Altiplano, der auf über 4.000 Meter liegenden Hochebene, die im Osten von der schneebedeckten Bergkette der Cordillera Real mit zahlreichen Sechstausendern begrenzt wird.

Irgendwann hört die „Schnellstraße“ endgültig auf, und der Bus bahnt sich seinen Weg nun auf schmalen Gassen durch eine nicht zu enden scheinende Siedlung aus meist unfertigen Bauten. Keiner von ihnen ist verputzt, die oberen Stockwerke sind fast komplett im Rohbauzustand, nur im Erdgeschoss kann man wohnen oder eher hausen. Die Straßen sind großteils weder geteert noch gepflastert, teilweise stehen riesige Wasserlachen vor den ärmlichen Behausungen.

Allmählich kriegen wir mit, wo wir uns befinden: Das hier sind die Außenbereiche von El Alto, Boliviens mittlerweile zweitgrößter Stadt. Bis 1985 war El Alto ein Teil von La Paz, dann erhielt die rapide wachsende Armensiedlung die kommunale Eigenständigkeit zuerkannt und hat die unten im Tal liegende „Mutterstadt“ nach Einwohnern inzwischen überholt. Wirtschaftlich liegen zwischen den beiden Städten allerdings nach wie vor Welten: Statistisch ist El Alto weltweit eine der ärmsten Großstädte überhaupt.

Um nach La Paz zu gelangen, müssen wir über zahlreiche Serpentinen bergab fahren. Doch irgendwann hindert eine rot-weißes Absperrband unseren Bus an der Weiterfahrt. Der Fahrer verhandelt mit dem diensthabenden Polizisten, die Banderole wird abgesenkt – es geht also weiter?! Nur noch hundert Meter, dann ist endgültig Fahrtende. Wir halten am Straßenrand; weiter kommt der Bus heute nicht. Wir sind im Friedhofsviertel von La Paz, heute ist Tag der Toten, der Weg zum Terminal ist versperrt. „Lauft da vor an die Straße und nehmt euch ein Taxi“, lässt der Fahrer uns Passagiere wissen. Machen wir… und finden nach einigen Minuten auch eines, das uns zu unserer Unterkunft „Rendezvous Guest House“ bringt. Ein echter Glücksgriff: Es liegt in einer ruhigen Seitenstraße im Stadtteil Sopocachi, dem einzigen Mittelklasse-Wohngebiet in Zentrumsnähe; unser Zimmer ist sehr nett und stilvoll eingerichtet und außerdem äußerst geräumig – noch dazu ist das Frühstücksbuffet, wie wir am nächsten Morgen feststellen werden, vom Feinsten!


An diesem Nachmittag beschränken wir uns darauf, uns ein wenig im Viertel umzusehen. Wir finden unweit unserer Unterkunft ein richtig gutes Eiscafé, staunen über die Hochhauslandschaft rund um die nahe gelegene Plaza Eduardo Avaroa und stellen fest, dass wir hier quasi im Botschaftsviertel wohnen: Bei unserem kleinen Bummel kommen wir an nicht weniger als sechs diplomatischen Vertretungen vorbei, darunter auch an der deutschen.

Genauer kennen lernen wollen wir La Paz am nächsten Tag. Um in die Altstadt zu gelangen, müssen wir etwa eine halbe Stunde laufen. Wir sind ja jetzt schon einige Zeit im Hochland, also bereitet uns der Stadtbummel in der über 3.600 Meter hoch gelegenen Stadt keine Probleme. Neuankömmlingen aus dem Tiefland droht dagegen erst einmal die Bekanntschaft mit der Höhenkrankheit… Der Großteil des Weges führt auf der Avenida 16 de Julio hinauf, von den Einheimischen nur El Prado genannt. Sie ist eine breite, von gläsernen Banktürmen und anderen Hochhäusern gesäumte Prachtstraße mit dichtem Verkehr, deren breiter Mittelstreifen zu einer langgezogenen, gepflegten Parkanlage umgestaltet wurde. Hier macht La Paz einen sehr modernen, westlichen Eindruck…

Aber das ist nur eine Seite dieser äußerst gegensätzlichen Stadt. Als wir die Plaza San Francisco erreichen, an der sich die gleichnamige, im 16. Jahrhundert von den Spaniern errichtete Kolonialkirche erhebt, hören wir schon von Weitem laute, aufgeregte Reden und sehen eine große Menschenmenge, teilweise sogar auf einer Tribüne sitzend. Minütlich werden krachende Böller abgefeuert. Was ist denn hier los? Wir entdecken Transparente und finden heraus, dass es sich um die Demonstration irgendeiner Gewerkschaft handelt.

Arbeiterproteste, das lesen wir auch in unserem Reiseführer, sind in La Paz keine Seltenheit. Manchmal arten diese angeblich auch aus… Wir halten uns also nicht lange hier auf. Später, als wir am Arbeitsministerium vorbeilaufen, sehen wir, dass diese Informationen wohl durchaus ihre Berechtigung haben: Die Fassade des recht schlichten Gebäudes ist mit Farbklecksen gesprenkelt – „Andenken“ an frühere Ausschreitungen, als die wütenden Protestierer ihrem Zorn mit Farbbeuteln Ausdruck verliehen.

Die Altstadt von La Paz ist nicht groß und bietet alles andere als eine gepflegte Erscheinung. Hier findet man zwar durchaus eine Reihe von Bauwerken kolonialen Ursprungs, von denen aber viele dringend einer gründlichen Sanierung bedürften.

Zudem leidet das Straßenbild unter dem starken Verkehr, der sich durch die engen Gassen zwängt und unter dem unglaublichen Gewirr von Stromkabeln. Hier wird sehr offensichtlich, dass Bolivien als ärmstes Land Südamerikas gilt…

Eine skurrile Sehenswürdigkeit ist der sogenannte Hexenmarkt: Hier verkaufen indigene Händlerinnen allerlei obskure Gegenstände, die bei traditionellen Ritualen angewandt werden. Die auffälligsten und für Fremde zugleich abstoßendsten Accessoires sind die zahlreichen getrockneten Lamaföten, die unübersehbar über den Eingängen der kleinen Lädchen hängen.

Etwas gesetzter und ordentlicher erscheint der Teil der Innenstadt, der östlich des El Prado liegt. Hier stoßen wir auf die Plaza Murillo, die man als „gute Stube“ von La Paz bezeichnen könnte. Der von Unmengen von Tauben bevölkerte Platz wird an der Südseite vom breiten Parlamentsgebäude gesäumt, während im Westen der von Gardesoldaten bewachte Präsidentenpalast und die aus dem 19. Jahrhundert stammende Kathedrale gleich nebeneinander stehen.

Obwohl also alle wichtigen politischen Gremien des Landes in La Paz beheimatet sind, hat die Stadt nur den Status eines Regierungssitzes. Offizielle Hauptstadt Boliviens ist laut Verfassung seit eh und je das wesentlich kleinere Sucre.

Die landschaftlich äußerst reizvolle Lage von La Paz im Tal des Río Chokeyapu lässt sich am besten von ganz oben überblicken. Es gibt zwar in Zentrumsnähe auch einen „Mirador“, doch die Chefin unserer Unterkunft hat uns dazu geraten, mit der Seilbahn von Sopocachi nach El Alto hinaufzufahren – die kostet hin und zurück nur sechs Bolivianos, und man hat von dort angeblich mindestens eine genauso gute Aussicht. Die Seilbahn mit derzeit drei Linien ist übrigens erst seit 2014 in Betrieb – ein ambitioniertes Projekt, das vom bolivianischen Präsidenten Evo Morales eingeleitet und von der österreichischen Firma Doppelmayr umgesetzt wurde. Es soll das Verkehrschaos von La Paz hinauf nach El Alto entschärfen und ein Stück verbesserte Infrastruktur für die dort ansässige, meist indigene Bevölkerung mit sich bringen.

Oben in El Alto angekommen, stellen wir allerdings fest, dass es hier keine Aussichtsplattform, wie wir das uns vorgestellt hatten, gibt. Wir laufen durch ein paar nahegelegene Straßenzüge, doch wirklich wohl fühlen wir uns in dieser ärmlichen Trabantenstadt nicht. Im Gegensatz zu Europa wohnen in vielen Großstädten in Südamerika die Reichen unten und die Armen auf dem Berg. An einer Stelle gibt es wenigstens ein klein wenig unverbauten Blick hinunter auf die beeindruckende Skyline von La Paz und Richtung Süden auf die imposante schneebedeckte Silhouette des 6.439 Meter hohen „Hausbergs“ der Stadt, den Illimani.

Den besten Blick auf La Paz hat man aber eindeutig von der Gondel aus. So fahren wir bald wieder bergab und haben von hier zweifellos mehr Muße und Ruhe, um das beeindruckende Panorama der bolivianischen Metropole genießen zu können.
