Córdoba.
Eine Stadt von der Größe Córdobas richtig kennenzulernen erfordert Zeit. Argentiniens zweitgrößte Stadt mit knapp 1,4 Millionen Einwohnern, im östlichen Andenvorland auf 390 Metern Meereshöhe gelegen, zeigt uns Besuchern an drei Tagen sehr unterschiedliche Facetten: Am Samstag herrscht in der Fußgängerzone bei hochsommerlichen Temperaturen vorweihnachtlicher Einkaufstrubel, am Sonntag wirkt die Stadt dann wie ausgestorben – selbst die meisten Restaurants haben geschlossen – und werktags zeigt sich Córdoba in „Normalform“ von seiner sympathischsten Seite.

Unser Hotel „Everest“ liegt für die Erkundung der Stadt sehr günstig. In maximal zehn Minuten sind wir zu Fuß an der Plaza San Martín. Die andernorts oft gesehene Aneinanderreihung von kolonialen Prachtgebäuden fällt am Hauptplatz von Córdoba vergleichsweise bescheiden aus. Mit Abstand auffälligstes Bauwerk ist die Kathedrale „Nuestra Señora de la Asunción“, eine mächtige Barockkirche aus dem 17. Jahrhundert.

In der gleichen Zeit entstanden, trotz seines langen Säulengangs aber wesentlich schlichter und eines neuen Anstrichs bedürfend, gesellt sich gleich daneben der Cabildo, das Rathaus der Stadt, dazu. Am besten gefällt uns an ihm der stilvolle Innenhof.


Einen noch schöner gestalteten Patio finden wir ein paar Blocks entfernt im Zentralgebäude der Universität: Córdoba ist eine typische Studentenstadt, etwa 150.000 Studierende an sieben verschiedenen Hochschulen leben heute hier. Die Universität, die Jesuitenkirche (sie gilt als älteste des Landes) sowie das sich daran anschließende Schulgebäude „Colegio de Montserrat“ bilden zusammen die „Manzana de los Jesuitas“: Der gesamte Block wurde von den Jesuiten während der Zeit ihrer Aktivitäten in Paraguay als Zentrale errichtet und zählt seit dem Jahr 2000 zum UNESCO-Weltkulturerbe.


Einige weitere bemerkenswerte Gebäude entdecken wir auf unseren Streifzügen durch die Innenstadt der zentralargentinischen Metropole. Da ist die mit einer strahlend blauen Kuppel gekrönte Dominikanerkirche aus dem 19. Jahrhundert, im Stadtteil Nuevo Córdoba ragt die neogotische Kirche „Sagrado Corazón“, von den Kapuzinern in den 1920ern errichtet, mit einem unvollendeten Turm auf.


Auch prunkvolle Profanbauten finden sich in der Stadt, so das Provinzparlament mitten in der Fußgängerzone oder der als Kunstmuseum dienende Palacio Ferreyra.

Letzterer befindet sich direkt an der Plaza España – und das Erscheinungsbild dieses Platzes macht wohl deutlicher als irgendein anderer Ort der Stadt auf die enormen Probleme aufmerksam, die es in Córdoba und im gesamten Land derzeit gibt. Der in der in den 1960er, -70er Jahren üblichen Betonbauweise gestaltete Platz ist vermüllt, über und über mit Graffitis besprüht und insgesamt in einem Stadium fortgeschrittenen Verfalls – ein Symbol für den schon lange währenden wirtschaftlichen Niedergang Argentiniens.

Anzeichen dafür sehen wir genug. Die vielen Billigläden, in denen sich die Kunden drängen, passen genauso ins Bild wie die Menschentrauben vor Geldautomaten und den „Pago Rápido“-Schaltern – die Leute stehen zuerst an, um den wegen der hohen Inflation oft wöchentlich ausgezahlten Lohn abzuheben und damit anschließend an eigenen Zahlstellen offene Rechnungen zu begleichen. Kinder laufen durch Restaurants und versuchen dort Kleinigkeiten wie z.B. Müllsäcke zu verkaufen; in der Fußgängerzone sind am Sonntagabend ganze Straßenzüge mit billigen Waren direkt auf dem Pflaster ausgelegt, während sich zeitgleich vor der Kathedrale eine lange Schlange bildet – hier findet gerade eine Armenspeisung statt.


Der Alltag macht es vielen Argentiniern also nicht leicht – umso mehr sind wir beeindruckt von der großen Freundlichkeit und Offenheit, der wir hier immer wieder begegnen. Da ist der Tischnachbar in dem Lokal am Busbahnhof, der uns darauf hinweist, wo wir unsere Rucksäcke am diebstahlsichersten hinstellen sollen; die Taxifahrer, die sich dafür interessieren, wo wir schon waren und wo wir noch hinwollen (und einer, der ausländische Münzen sammelt und sich riesig freut, als er von uns ein 20-Cent-Stück mit dem Brandenburger Tor auf der Rückseite bekommt); der Gastwirt, der uns fragt, woher wir sind und uns anschließend gleich ein „Warsteiner“ (das in Argentinien in Lizenz gebraut wird) empfiehlt; der Security-Mann an einer Straßenecke in Córdoba, der uns anspricht, ob er uns helfen kann oder der Polizist in Villa General Belgrano, der uns aus dem fahrenden Auto heraus grüßt…

Und nicht zu vergessen der junge Mann an der Rezeption unseres Hotels: Als wir uns nach der Busverbindung zum Fußballstadion erkundigen, läuft er mit uns gleich bis zum nächsten Kiosk, an dem es die aufladbaren Plastikkarten gibt, die man hier für die Stadtbusse braucht, und schreibt uns dazu auch noch die Buslinien auf, die wir nehmen können. Dass wir das „Estadio Mario Alberto Kempes“, wie es seit der Erweiterung auf 57.000 Plätze im Jahr 2011 heißt, nur von außen ansehen können, weil es nach einer Veranstaltung am Abend zuvor noch gereinigt wird, ist persönliches Pech. Dennoch ist mir der Besuch hier wichtig: Seit jenem denkwürdigen WM-Spiel am 21. Juni 1978 gegen Österreich, in dem Hans Krankl kurz vor Schluss mit dem Siegtor für Österreich das deutsche Ausscheiden aus dem Turnier besiegelte und das durch die Rundfunkreportage von Edi Finger sen. („I wer‘ narrisch! Krankl schießt ein! 3:2 für Österreich!“) Kultcharakter erlangte, ist „Córdoba“ zu einem inzwischen tragikomischen Fußball-Mythos geworden.

Dass die WM in einem Land stattfand, das von einer blutigen Militärdiktatur regiert wurde, war schon damals Gegenstand heftiger internationaler Kritik. Für das Regime bot es eine Gelegenheit, sich auf der Weltbühne positiv darzustellen und im Land selbst von Terror und Unterdrückung abzulenken – aus Sicht der Machthaber war es optimal, dass Argentiniens Nationalmannschaft Weltmeister wurde. Das Gerücht, die Regierung habe dem Erfolg etwas nachgeholfen, indem es dem bereits chancenlosen letzten Zwischenrundengegner Peru (das Spiel endete prompt auch 6:0) Getreidelieferungen zugesagt habe, hält sich hartnäckig. Doch was ist ein mögliches verschobenes Fußballergebnis schon gegen zigtausende von Menschenleben? Bis heute ist das Schicksal zahlloser Regimegegner unbekannt. Sie verschwanden spurlos in den Folterkellern der Diktatoren. Und diejenigen, die das Grauen überlebten, berichteten von schweren Misshandlungen. Ein Besuch im „Museo de la Memoria“ verleiht den Verschwundenen Gesichter; es rekonstruiert ihre Schicksale und zeigt, dass die Staatsmacht ihre Untaten in den Amtsräumen der Geheimpolizei mitten in der Stadt, gleich hinter dem Rathaus, verüben konnte…

