Putemún.
Das Hostel in Castro, der Inselhauptstadt von Chiloé, buchten wir schon vor einigen Tagen. Wie so oft, waren neben dem Preis die Gästebewertungen ein maßgebliches Kriterium bei der Wahl unserer Unterkunft. Als wir uns nun die Lage des Hostels „Altos de Putemún“ genauer ansehen, stellen wir fest, dass wir gar nicht direkt in Castro wohnen, sondern in dem sieben Kilometer entfernten kleinen Ortsteil Putemún. Ein Problem? Zum Glück nicht – denn nachdem wir die knapp eineinhalbstündige Fahrt von Ancud bis ins Zentrum der Insel zurückgelegt haben, fahren von hier in recht kurzen Abständen sehr preisgünstige Minibusse weiter ins Umland. Der Nahverkehr ist auch auf Chiloé bestens ausgebaut…
Und wir brauchen dem Busfahrer nur sagen, was unser Ziel ist, um etwa 200 Meter vom Haus entfernt aussteigen zu können und von den Gastgebern Noelia und Harald kurz darauf sehr freundlich in ihrem Privathaus, auf einem kleinen Hügel am Dorfrand mit viel Platz rundherum gelegen, begrüßt zu werden. Das Paar mit ihren zwei Kindern Valentina und Klaus, dem Yorkshire-Terrier Laurel und einigen Schafen betreibt hier eine kleine Frühstückspension mit Familienanschluss – im Nebenerwerb, denn Vater Harald arbeitet im über 500 Kilometer weiter nördlich gelegenen Temuco und ist nur am Wochenende daheim.

Wir kommen am Sonntagmittag an und bekommen von Harald deswegen gleich einen tollen Vorschlag: „Wenn ihr gut essen wollt, dann lauft einfach hinunter ins Dorf ins Restaurant Rucalaf! Ich ruf gleich mal an und reserviere zwei Plätze für euch!“ Wir tun, wie uns geheißen, und bereuen es nicht; denn bessere Fischgerichte, raffiniert zubereitet und mit viel Stil serviert, haben wir schon lange nicht mehr gegessen als in diesem hübschen dunkelblau gestrichenen Holzhäuschen!

Holz ist das absolut bevorzugte Baumaterial auf Chiloé. Das haben wir bereits in Ancud festgestellt, das sehen wir jetzt auch wieder, als wir mit dem Minibus weiterfahren in das Städtchen Dalcahue, das knapp zehn Kilometer weiter an der dem Festland zugewandten Ostküste der Insel liegt. Ihr wichtigstes Baudenkmal ist die Pfarrkirche Nuestra Señora de los Dolores – der in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene Bau ist eine von insgesamt 16 Holzkirchen auf der Insel, die Eingang in die Weltkulturerbeliste der UNESCO gefunden haben.

Und wir haben Glück, denn am Sonntagnachmittag ist die Kirche geöffnet, sodass wir auch den hübsch gestalteten Innenraum bewundern können – wie unsere Gastgeber uns später erzählen werden, ist das keine Selbstverständlichkeit!

Jeden Sonntag findet in Dalcahue ein Kunsthandwerksmarkt statt, der inselweit bekannt ist. Auch hier sind viele Holzarbeiten im Angebot, ebenso gibt es jedoch zahlreiche warme Kleidungsstücke mit traditionellen Mustern aus Schafwolle zu kaufen.

Ansonsten strahlt das kleine Hafenstädtchen, der gegenüber die recht große Nebeninsel Quinchao liegt, viel Ruhe und Gemütlichkeit aus; ein Ort zum Entspannen – einfach nur dasitzen und über die sanft geschwungenen grünen Hügel der Umgebung schauen…

Abends kommen wir im Hostel mit einem englischen älteren Ehepaar, das gerade ein halbes Jahr auf Weltreise ist, ins Gespräch. Sie empfinden die Atmosphäre auf Chiloé ähnlich wie wir: Die Insel hat ein bisschen was von Irland, von Schottland, von Skandinavien – auch was das unbeständige Wetter angeht.

Das erleben wir am Montagmorgen: Der strahlend blaue Abendhimmel von gestern hat dunkelgrauen Regenwolken Platz gemacht, die ihre über dem Pazifik aufgesogene Fracht nun über der nicht umsonst so grünen Insel ausschütten. Doch schon ein paar Stunden später wird es wieder heller, und wir fahren mit unserer Gastgeberin, die ohnehin gerade zusammen mit ihren Kindern in die Stadt wollte, hinein nach Castro, um die fast 45.000 Einwohner zählende Inselhauptstadt kennenzulernen.

Auf einer Halbinsel gelegen, die in einen langgestreckten Fjord hineinragt, kann Castro den üblichen rechtwinkligen Grundriss nur im Stadtzentrum einhalten; die unregelmäßige Küstenlinie zwang die Stadtplaner vor allem im Uferbereich zu Abweichungen. Und weil das Land hinter einem kleinen, flachen Streifen direkt am Wasser gleich steil ansteigt, sind es eigentlich zwei ganz verschiedene Stadtteile, die den besonderen Charakter Castros ausmachen.

Die eigentlichen Wahrzeichen der Stadt befinden sich unten am Fjord – bunte Fischerhäuser, die zur Straße hin ganz normal aussehen und ihre Besonderheit erst dann offenbaren, wenn man sie von der Wasserseite aus betrachtet. Sie stehen auf langen, hölzernen Stelzen im Schlick des Uferbereichs, der nur während der Flut vom Wasser überspült wird. Dass kaum noch einer der „Palafitos“ genannten Pfalbauten heute von Fischern bewohnt wird, sondern in ihnen mittlerweile eine Reihe von trendigen Hostels und Gaststätten entstanden ist, liegt an dem in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegenen Tourismus, der nicht nur Chilenen sommers auf die Insel bringt.


Castro, Chiles drittälteste Stadt, besteht bereits seit 1567. Doch die heute ebenfalls zu den Weltkulturerbe-Bauwerken gehörende Stadtpfarrkirche San Francsico mit ihrer auffälligen, in gelb-lila gehaltenen Fassade, steht hier erst seit dem frühen 20. Jahrhundert – sie ist die jüngste der 16 Holzkirchen, die in der UNESCO-Liste enthalten ist. Als wir die Außenfassade der Kirche genauer betrachten, stutzen wir erst einmal: Sie ist komplett mit Blechplatten verkleidet! Wie wir später erfahren, sind die selbstverständlich nicht original, sondern erst vor etwa 30 Jahren angebracht worden, um die hölzerne Bausubstanz zu schützen.

Und die ist, sieht man sich den Innenraum einmal genauer an, wirklich beeindruckend. Holzkirchen haben wir in anderen Weltgegenden ja durchaus auch schon gesehen; doch die Größe und die aufwändige Verarbeitung machen das Besondere dieses in Castro stehenden Baus aus.

Will man Chiloé richtig kennenlernen, dann muss man unbedingt auch die raue, kaum besiedelte und nur über eine einzige Straße erreichbare Westküste der Insel besuchen. Das tun wir am Dienstag – und werden dazu von unserem Guide Guillermo abgeholt, einem mit Kenntnissen über Flora und Fauna bestens bewanderten Rasta-Man, der aus seiner Zeit als Reiseleiter in Neuseeland prima Englisch spricht. Unterwegs steigt noch die Schauspiellehrerin Montserrat, eine Bekannte von Guillermo, die erst seit Kurzem auf Chiloé wohnt, zu. In dieser Besetzung erreichen wir nach einer knappen Stunde Fahrzeit das südwestlich von Castro gelegene Dörfchen Huillinco, idyllisch und weltentrückt am gleichnamigen See gelegen.


Bei einem Spaziergang durch den Ort entdecken wir einen malerisch verwitterten Bootssteg, an dem Eisvögel ihren Beobachtungsposten aufgeschlagen haben, eine ebenso in Würde gealterte kleine Dorfkirche und – dank Guillermo – den Friedhof des kleinen Ortes, der auf den ersten Blick wie eine Schrebergartensiedlung anmutet: Viele kleine Holzhäuschen stehen hier herum, es sind die Gräber der hiesigen Familien! Wie Mausoleen wirken sie auf uns; Miniatur-Museen für die Verstorbenen, denen neben Blumen und Heiligenbildern auch Plüschtiere und anderer Tand gewidmet ist.

Erinnerungen an die Ahnenschreine der Buddhisten und Hinduisten werden wach – und tatsächlich, als wir einige Zeit später an der Westküste angekommen sind und uns durch eine von struppigen Wäldchen und Schafweiden geformte Landschaft der Klippe nähern, an der die seltsam anmutende „Muelle de las Almas“ (Bootssteg der Seelen) hoch über dem Meer ins Nichts hinausragt, klärt uns Guillermo über die Bedeutung dieser vor etwa 20 Jahren von einem einheimischen Künstler angebrachten Installation auf.



Dem althergebrachten Glauben der einheimischen Chiloten zufolge treten nämlich die Seelen aller Lebewesen – Menschen, Tiere und auch Pflanzen – nach dem Tod ihre Reise übers Meer an, um später in einem neuen Leben wiedergeboren zu werden. Die Muelle de las Almas symbolisiert somit die Stelle, an der die Seelenwanderung beginnt – und Relikte dieses Glaubens finden sich unübersehbar in den Grabmälern, die es in dieser Form nur auf Chiloé gibt.


Die Auswirkungen eines völlig anderen, wesentlich aktuelleren Ereignisses, das Guillermo auch während der Fahrt schon angesprochen hat, sind von der Muelle de las Almas, über die genau während unseres Besuchs ein kurzer, heftiger Regenschauer niedergeht, sehr gut zu überblicken. Am 25. Dezember 2016, also vor wenig mehr als drei Wochen, ereignete sich ein mit einem Wert von 7,6 ziemlich starkes Erdbeben, dessen Epizentrum einige Kilometer südlich von Chiloé lag. Menschen und Gebäude trugen keine nennenswerten Schäden davon; doch die Zufahrtsstraße zur Küste hat sich an einigen Stellen – besonders rund um Brücken – abgesenkt und bedarf nun Reparaturarbeiten (Guillermo, ärgerlich: „Wäre das in Santiago passiert, hätte die Regierung die Straßen sofort ausgebessert. Aber hier lässt man sich Zeit…“). Und als unser Guide nun die Abbruchkante der sandigen Steilküste sieht (er ist zum ersten Mal seit dem Erdbeben wieder hier), fällt ihm sofort etwas auf: „Schaut mal, dieser Tierpfad! Der liegt jetzt direkt am Abgrund! Das war vor dem Beben anders!“ Ein ganz neues von zahlreichen Beispielen, wie die Kräfte im Untergrund das Landschaftsbild immer wieder wandeln können…

Nach einem gemütlichen Picknick mit von Guillermo mitgebrachtem Wein durchqueren wir den kleinen Ort Cucao, in dessen Norden sich der Eingang zum Nationalpark Chiloé befindet.

Auf gut ausgebauten Wegen, zum großen Teil auf Holzbohlen, erkunden wir die vielfältige Flora des dicht verwachsenen Küstenwaldes, dessen Ökosystem genauestens darauf abgestimmt ist, mit den starken Winden und häufigen Regenfällen zurechtzukommen, die es hier besonders im Winter gibt.

Und wir lernen einige typische Pflanzen dieser Region kennen: Rhabarberähnlich wirkt das gewaltige Mammutblatt, dessen Stiele ganz ähnlich wie das zuhause bekannte Gemüse geschält und gegessen werden können, jedoch eher sellerieähnlich schmecken – schließlich ist das Mammutblatt trotz seines Aussehens mit dem Rhabarber nicht verwandt.

Mit einer rötlichen Rinde sehr auffällig ist die bis zu Baumhöhe emporwachsende Myrtenart „Luma apiculata“, die nur in Chile und Argentinien vorkommt und hier „Arrayán“ genannt wird.

Ein anderer Myrtenbaum mit dem Namen „Tepú“ schafft durch sein dichtes, hoch aus dem sumpfigen Boden ragendes Wurzelgeflecht, das im Laufe der Jahre von Moosen überzogen wird, eine Art doppelten Boden, der wie der eigentliche Waldboden wirkt. Doch das kann bitter täuschen: Guillermo macht uns darauf aufmerksam, den Holzbohlenweg bloß nicht zu verlassen – „der Boden ist ein Fake, da kann man metertief durchbrechen!“ Abgesehen von dieser Gefahr erfüllt der doppelte Boden aber eine wichtige Aufgabe: Zusammen mit den vor allem an der Wetterseite der Baumstämme wachsenden Moose fängt er die heftigen Regenfälle ab und bewirkt, dass das Wasser nur langsam in den Boden einsickert. Damit bewahrt er das empfindliche System vor Erosion und dem schnellen Abfließen des Süßwassers ins Meer.


Genau dieser Effekt wird aber durch einen Eingriff des Menschen in die Inselnatur provoziert, der erst vor etwa zehn Jahren begonnen hat: Das in den Hochmooren wachsende Torfmoos, das eine enorme Fähigkeit zur Wasserspeicherung besitzt, wird wegen genau dieser Eigenschaft seither stark abgebaut – vor allem zur Verwendung als Saugeinlage in „Ökowindeln“. Die Regierung, schimpft Guillermo, tue nichts dagegen; Hauptsache sei, die Umweltzerstörer zahlten ihre Steuern…


Der Erhalt der Umwelt ist auch auf Chiloé also keine Selbstverständlichkeit – als wir in einem kleinen Museum auf dem Nationalparkgelände alte Holzgerätschaften wie Schlitten (zum Transport schwerer Ladungen übers im Winter verschlammte Land) und eine kleine Goldwaschanlage sehen, erzählt uns Guillermo noch mehr: Ein Brückenbauprojekt zwischen dem Festland und der Insel, zwischenzeitlich aus Kostengründen eingestellt, wurde von der Regierung vor Kurzem wieder reaktiviert. Wozu? Für die Einheimischen reicht die Fähre für die paar Kilometer vollkommen, das Argument einer besseren Verkehrsanbindung sei nur vorgeschoben. „Die großen Bergwerksgesellschaften scharren schon mit den Hufen, auf Chiloé werden nämlich außer Gold noch weitere Rohstoffvorkommen vermutet!“ Und die, schlussfolgert Guillermo, lassen sich natürlich per LKW leichter über eine Brücke abtransportieren…

Ob es den Chiloten, die den Brückenbau zum Großteil ablehnen, aber gelingt, dieses Projekt zu verhindern, steht in den Sternen. Vielleicht gibt ja ein wunderschönes Naturschauspiel, das uns gegen Ende unserer Fahrt in Castro geboten wird, Grund zur Hoffnung: Ein weiterer Regenschauer zieht übers Land, und da gleichzeitig von Westen die Abendsonne scheint, spannt sich ein herrlicher Regenbogen über Land und Meer…
