Valdivia.
Nach fünf Tagen ist es am Mittwoch Zeit, Chiloé wieder zu verlassen. Unser achtstündiger Reisetag führt uns noch einmal an sämtlichen Stationen vorbei, die wir seit dem Abschied von Denise und Peter vor zehn Tagen besucht haben: Zunächst mit dem Minibus von Putemún nach Castro, wo wir in einen „großen“ Reisebus umsteigen, mit dem es über Ancud auf die Fähre geht, die uns zurück aufs Festland bringt. In Puerto Montt legt der Bus einen etwas längeren Mittagsstopp ein; anschließend passieren wir Puerto Varas und lassen in Frutillar weitere Passagiere zusteigen. Erst als es noch weiter nach Norden geht, sind wir wieder in unbekannten Gegenden unterwegs. Schließlich steigen wir kurz nach fünf Uhr nachmittags am Terminal von Valdivia aus und lassen uns per Taxi an die erst vor wenigen Tagen gebuchte Unterkunft, eine Cabaña (Ferienhütte) bei „Raices de Oregon“, bringen. Doch die zwei jungen Frauen, die in der Rezeption Dienst tun, wissen von nichts; als wir unsere Namen nennen, erklären sie uns, wir hätten für Februar reserviert. Haben wir etwa in der Eile das falsche Datum eingegeben? Ich rufe meine Reservation bei „booking.com“ auf – dort steht eindeutig „18. bis 20. Januar“. Ratlos zucken die Mädels mit den Schultern. Irgendein Verwalter der Ferienhütten erklärt ihnen schließlich, sich wohl bei der Weitergabe der Daten geirrt zu haben – was uns wenig hilft, denn alle Cabañas sind inzwischen belegt. Was nun? Wären wir nicht in Südamerika, könnte es jetzt tatsächlich kompliziert werden. Hier nicht: Die beiden führen uns zu einer anderen Ferienhütten-Vermieterin ein paar hundert Meter weiter in der gleichen Straße. Bei Lorena ist noch etwas frei; die Hütten machen sogar einen besseren Eindruck, und teurer wird es auch nicht…

Also gut, diese Hürde ist genommen; wir haben ein Dach über dem Kopf, können uns selbst versorgen und uns am Donnerstag Valdivia genauer ansehen. Die gut 150.000 Einwohner zählende Hauptstadt der Región de los Ríos liegt landschaftlich sehr ansprechend: Die Innenstadt liegt auf einer vom Río Calle-Calle umflossenen Halbinsel, gegenüber deren südwestlicher Seite der Río Cruces hinzufließt. Die breiten Wassermassen, die dem nur 15 Kilometer entfernten Pazifik entgegenströmen, werden ab hier nach der Stadt Río Valdivia genannt.

Obwohl Valdivia zu den ältesten Städtegründungen der spanischen Eroberer in Chile gehört, gibt es kaum historische Bauwerke in der Stadt zu bewundern. Hauptgründe dafür: ein schwerer Stadtbrand im Jahre 1909 und das verheerende Erdbeben vom 22. Mai 1960, das heftigste, das jemals auf der Welt gemessen wurde (9,5). Eine der wenigen Ausnahmen ist der Torreon del Barro, auch Torreon Picarte genannt: Er wurde 1774 von den Spaniern im Zuge des damals erfolgten Ausbaus der Stadtbefestigung errichtet, um sich vor den Attacken der indigenen Mapuche zu schützen.

Ein historisches Gesicht trägt auch noch die Calle Libertad: Die Fassaden dieser Straße sind im klassizistischen Stil errichtet, den die deutschen Einwanderer, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts nach Valdivia strömten und auch hier die regionale Kultur stark beeinflussten, in die Stadt brachten.

Der wichtigste Sakralbau der Stadt, die Kathedrale Nuestra Señora del Rosario de Valdivia, war nach der Katastrophe von 1960 so stark zerstört, dass an ihrer Stelle ein kompletter, moderner Neubau entstand, der nach zehnjähriger Bauzeit erst 1998 eingeweiht wurde.

Und auch die lebendige Uferzone ist modern gestaltet: An ihr befinden sich unter anderem ein Handwerksmarkt und ein als Wissenschaftsmuseum genutzter Turm, in dem das Foucaultsche Pendel den Besuchern die Erdrotation anschaulich begreifbar macht.


Wäre sicher auch interessant – der größte Besuchermagnet in Valdivia liegt allerdings ein paar Kilometer außerhalb im Stadtteil Torobayo auf der grünen Wiese. Und dort wollen auch wir hin: in die Cervecería Kunstmann, eine der größten und bekanntesten Bierbrauereien des Landes. Schon als wir das erste Mal für ein paar Tage nach Chile gekommen waren, hatten wir in einer Gaststätte in San Pedro de Atacama Kunstmann-Bier aus Valdivia (Untertitel in deutscher Sprache: „das gute Bier“) getrunken und festgestellt, dass der Werbespruch kein leeres Versprechen ist.

Überall im Land – auch in der Hauptstadt Santiago, auch im tiefen Süden in Punta Arenas – ist Kunstmann-Bier zu erhalten; es ist nicht gerade das billigste unter den chilenischen Bieren, aber geschmacklich können die allermeisten nicht mithalten. Grund genug, der Brauerei einen Besuch abzustatten und dabei etwas mehr über ihre sehr interessante Geschichte zu erfahren. Doch zunächst stärken wir uns in der alpenländisch eingerichteten Brauereigaststätte mit einem deftigen Mittagessen. Deutsche, aber auch örtliche Gerichte stehen auf der umfangreichen Speisekarte des Lokals. Unsere letzte Gastgeberin hat uns empfohlen, hier „Crudo“ zu probieren – ich tue es und bin nicht wenig überrascht, als ich sehe, was mir serviert wird: Rohes Rinderhackfleisch mit Zwiebeln, Paprika und einer remouladenähnlichen Soße, dazu reichlich Brot. Bei uns würde man Tatar dazu sagen; dass es hier eine lokale Spezialität ist, ist eindeutig dem Einfluss der deutschen Auswanderer zuzuschreiben!

Anschließend nehmen wir an einer eineinhalbstündigen Brauereiführung teil, die uns die Gelegenheit gibt, die Historie des Bierbrauens in Valdivia genauer kennenzulernen. Alles begann mit einer hoch interessanten Persönlichkeit: Carl Anwandter, 1801 im heute brandenburgischen Luckenwalde geboren, war zwischenzeitlich Bürgermeister von Calau und später Abgeordneter des preußischen Landtags und der Nationalversammlung. Als die Revolution von 1848 gescheitert war, verließ der liberal denkende Anwandter frustriert sein Heimatland Richtung Chile, wo er in Valdivia ansässig wurde. In der neuen Heimat gründete er nicht nur eine Feuerwehr, einen deutschen Verein und eine deutsche Schule, sondern 1851 auch die erste Brauerei Chiles. Sie begründete den Ruf Valdivias als Bierhauptstadt; doch das Erdbeben von 1960 zerstörte das Werk komplett. Erst 30 Jahre später begann Armin Kunstmann, Nachkomme einer anderen deutschen Kolonistenfamilie, wieder damit, Bier in Valdivia zu brauen. Unter seinem Namen, aber unter Bezug auf den großen Pionier Anwandter, dessen Originalrezept jetzt zum Brauen eines „Anwandter Edel Lager“ verwendet wird, entstand nun innerhalb weniger Jahre die zweite Großbrauerei der Stadt.

Nach welchen Traditionen sich die Brauerei Kunstmann richtet, dadurch lässt ein Streifzug durch das kleine Biermuseum, das am Beginn der Führung steht, keinen Zweifel. Unübersehbar machen große, historisch aufgemachte Plakate die überwiegend einheimischen Besucher mit dem Reinheitsgebot bekannt.

Für uns Besucher aus dem fernen Bayern ist es schon faszinierend, an einem ganz anderen Ende der Welt vom bayerischen Herzog Wilhelm und seinem Dekret von 1516, dass zum Bierbrauen nichts anderes als Gerste, Hopfen und Wasser verwendet werden dürfe, zu erfahren. Auch ich schlüpfe gerne mal in die Rolle des Brauers, der demütig die Anweisungen des weisen Landesoberhaupts entgegennimmt…

Ein kleiner Schaugarten, in dem Gerste und Hopfen gedeiht, veranschaulicht zusätzlich die wichtigsten Ingredienzien der hier gebrauten Biere. Er wurde erst vor einem Jahr, im Januar 2016, eröffnet, und zwar in Anwesenheit von Professor Thomas Becker von der Hochschule Weihenstephan. Auch was moderne Brautechnologie angeht, orientiert man sich also an Bayern!

Anschließend werden wir durch die hochmodernen Produktionsanlagen geführt – zunächst ins Sudhaus, wo das Bier unter anderem den Maisch- und Läuterungsprozess durchläuft, anschließend in die Abfüll- und Verpackungshalle, in der vom Reinigen der Flaschen über die Abfüllung, die Pasteurisation, die Etikettierung und die Verpackung in verschiedene Gebinde all die Arbeitsschritte geschehen, die notwendig sind, um das Produkt verkaufsfertig zu machen.



Eine Brauereibesichtigung wäre unvollständig, gäbe es am Schluss keine Bierprobe. Kleine, schnapsglasgroße Becherchen erlauben es uns, gleich sechs verschiedene Biere aus der großen Produktpalette von Kunstmann zu testen – vom klassisch-bayerischen Weißbier über dunkles Lagerbier, erfrischend-herbes Indian Pale Ale bis hin zu süßen, mit Heidelbeer oder Honig aromatisierten Varianten, die unseren Geschmack eher weniger treffen…

Anderen Teilnehmern der Tour schmecken aber gerade diese Spezialbiere besonders gut – in Südamerika liebt man es eben vor allem süß. Kunstmann versteht es ganz gewiss, den verschiedensten Geschmäckern gerecht zu werden. Nullachtfünfzehn-Biere werden hier nicht gebraut… und was das Thema Vermarktung angeht, ist der Betrieb ebenfalls nicht auf den Kopf gefallen. Dem Lederhosen- und Dirndl-Image des bayerischen (= deutschen) Biers wird fröhlich gefrönt; im Souvenirshop gibt es reichlich Einkaufsmöglichkeiten, und mit dem Bierfest Ende Januar (leider erst in einer Woche…) hat die Brauerei seit 2002 einen neuen Höhepunkt im regionalen Jahresreigen erschaffen, der sich für sie sicher auch finanziell auszahlt.
