Osorno.
Wir hatten ja eigentlich vor, von Pucón aus in Richtung Argentinien weiterzureisen. Doch unser geplantes Ziel San Martín de los Andes war schon vor über einer Woche so sehr ausgebucht, dass es dort nur noch ganz wenige, sehr teure Übernachtungsmöglichkeiten gab. Also entschieden wir, noch zwei Tage länger in Chile zu bleiben und sitzen nun am Dienstag um elf Uhr in einem Bus, der uns wieder dreieinhalb Stunden südwärts bringen wird – in die Richtung, aus der wir vor etwa einer Woche gekommen waren. Allerdings steigen wir bereits in Osorno, das also unsere letzte Station in Chile werden wird, wieder aus und verabschieden uns hier von unseren neuen Reisebekannten Anja und Florian aus Dortmund. Sie fahren bis zur Endstation Puerto Montt und wollen von dort aus möglichst gleich weiter in den chilenischen Teil von Patagonien. Wir dagegen machen es uns in unserem Zimmer im Hostal Argentino, das in einer ruhigen, gepflegten Wohnsiedlung liegt, gemütlich.

Die Erkundung von Osorno verschieben wir auf Mittwoch – allzuviel Zeit sollte die in der gut 150.000 Einwohner zählenden, 60 Kilometer vom Pazifik entfernten Provinzstadt eh nicht in Anspruch nehmen, denn herausragende Sehenswürdigkeiten vermerken die Reiseführer nicht. Die Stadt wurde nach der offiziellen Geschichtsschreibung zwar schon 1558 gegründet, doch aufgrund der wiederholten Mapuche-Angriffe zwischendurch komplett aufgegeben und erst im Zuge der deutschen Kolonisation in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder belebt. Der deutsche Einfluss in der Stadt ist bis heute unübersehbar – in historischen Holzhäusern wie der Casa Sofia Hott, in der deutschen Schule oder dem Club Aleman, aber auch in vielen Namen an Geschäften in der Innenstadt, die Aufschluss über die deutschen Wurzeln ihrer Besitzer geben.


Allzu viele historische Bauwerke hat Osorno in der Tat nicht zu bieten – auch hier richtete das verheerende Erdbeben von 1960 schwere Schäden an. Eine der wenigen Ausnahmen ist die Fuerte Reina Luisa – eine Befestigungsanlage am westlichen Rand der Innenstadt, direkt am breiten Río Dalhue gelegen, die 1793/94 noch von den spanischen Besatzern errichtet wurde.

Schaut man über den Fluss, so ist die breite Fassade des modernen Casinos ein unübersehbarer Blickfang. Ein Aushängeschild des modernen Osorno, das auch noch auf einige weitere Gebäude verweisen kann, die über den Rahmen des üblichen Architektur-Einerlei hinausgehen.

Da ist zum einen die wunderschön schattige Plazuela Yungay, um die sich mit der nach dem Stadtbrand von 1943 in moderner Bauweise wiedererrichteten Iglesia San Francisco und den erst 2015 neu eingeweihten Mercado Municipal, eine Mischung aus Handwerksmarkt und Fresstempel, zwei auffällige Bauwerke gruppieren. In den zahlreichen kleinen Restaurants in dem Markt kann man zu günstigen Preisen viele gute, landestypische Gerichte probieren.


Zum Wahrzeichen der Stadt geworden ist die ebenfalls nach dem Erdbeben zwischen 1962 und 1982 neu errichtete Kathedrale San Mateo. Die mächtig und zugleich filigran anmutende, geschwungene Turmkonstruktion sitzt auf einem breiten Kirchenschiff, deren Straßenfront mit zahlreichen bunten Mosaiken geschmückt ist, die dem massiven Betonkomplex viel von seiner Schwere nehmen.

Wo anders kann die Kathedrale stehen als an der Plaza de Armas? Sie ist auch in Osorno unbestrittener Mittelpunkt der Stadt und mit einem kleinen Odeon nach griechischer Art, Springbrunnen und Standbildern wie etwa einem imposanten Stier sehr ansprechend gestaltet. Zudem spenden hohe Bäume viel Schatten – schön an einem Hochsommernachmittag wie dem heutigen, denn so kann man die zahlreichen Parkbänke wirklich auch zum Ausruhen nutzen.


So sitzen wir da und lassen halb Osorno an uns vorbeiflanieren – bis wir glauben, wir sehen nicht richtig: Da kommen doch glatt Anja und Florian! Wie kann denn das sein? Großes Hallo, die beiden erzählen uns ihre Geschichte der letzten 24 Stunden: In Puerto Montt angekommen, mussten sie feststellen, dass ihre geplante Weiterreise in den Süden von Chile wesentlich komplizierter und zeitaufwändiger werden würde als gehofft. Da ihr Zeitfenster in Patagonien begrenzt ist, planten sie kurzerhand um und wollten gleich weiter ins argentinische Bariloche – doch auch das war nicht so ohne Weiteres möglich, weil die Busse bereits ausgebucht waren. Letzter Ausweg: Heute morgen zurück nach Osorno, hier einen Tag überbrücken und morgen weiter nach Argentinien. Schade, dass sie mit einer anderen Busgesellschaft fahren werden als wir… Noch lange unterhalten wir uns mit den beiden, ehe wir uns am Abend ein zweites Mal voneinander verabschieden. Auf dem Rückweg ins Hostel legen wir noch eine Pause auf der Terrasse einer Kneipe ein und stoßen mit einem Pisco Sour auf unseren letzten Abend in Chile an. Anschließend kommen wir noch an einer ganz besonderen „Sehenswürdigkeit“ vorbei: Ein uraltes, irgendwann einmal wunderschön gewesenes Holzhaus, das längst zur Ruine verkommen ist, aber auch in diesem Zustand noch eine gewisse Würde ausstrahlt. Unwillkürlich muss ich an den legendären Song Das alte Haus von Rocky Docky von Bruce Low denken…
