Buenos Aires.
Es ist an der Zeit, sich von Bariloche und damit für lange Zeit auch von den Anden zu verabschieden. Eilig haben wir es damit jedoch nicht, denn erst für 14.05 Uhr ist an diesem Montag die Abfahrt unseres Busses nach Buenos Aires vorgesehen. Am viel zu kleinen, mit Reisenden überfüllten Busbahnhof von Bariloche wird unsere Geduld aber auf eine harte Probe gestellt: Die Gesellschaft Via Bariloche hat – offensichtlich der großen Nachfrage wegen – gleich drei kurz aufeinanderfolgende Busse in die argentinische Hauptstadt eingesetzt. Die mit den Abfahrtszeiten 14.00 Uhr und 14.10 Uhr sind auch relativ pünktlich; nur unserer braucht ewig, bis er überhaupt mal kommt. Mit 75 Minuten Verspätung geht es schließlich los: unsere bisher längste Busreise, sie dauert gut 21 Stunden und führt auf einer Strecke von ungefähr 1.600 Kilometern einmal quer durch das riesige Land. Doch auch diese Fahrt geht irgendwann zu Ende; in Buenos Aires fahren wir per U-Bahn (hier heißt sie Subte) ins gehobene Wohnviertel La Recoleta, in dem wir über Airbnb sehr günstig eine schöne kleine Wohnung für fünf Nächte gemietet haben.
Genug Zeit, um die argentinische Metropole genauer kennenzulernen – wir starten unsere Erkundungen am Mittwoch mit einem Spaziergang durch La Recoleta. Es dauert nicht viel mehr als eine Viertelstunde, schon sind wir an einer Sehenswürdigkeit der ganz besonderen Art angekommen, die in manchen Reiseführern sogar als Hauptattraktion von Buenos Aires bezeichnet wird: dem Friedhof des Stadtteils.

Was macht ihn so besonders? Schon das imposante neoklassizistische Eingangstor macht deutlich, dass es sich hier um eine außergewöhnliche letzte Ruhestätte handelt.

Läuft man anschließend durch die Wege, so kommt man an zahllosen prächtigen Mausoleen vorbei, die sich an Glanz und Prunk gegenseitig zu überbieten versuchen – hohe Militärs, Staatspräsidenten, reiche Industrielle, Künstler und Sportler liegen hier.
Ein Blick in die Grabdenkmäler lehrt schon fast das Gruseln: Offen sichtbar stehen darin die Särge der Dahingegangenen…


Dazwischen finden sich Monumente für Nationalhelden, aber auch anrührende Gedenkstätten, die wohlhabende Eltern ihren früh verblichenen Töchtern gewidmet haben – gewöhnliches Volk wurde hier jedenfalls nicht bestattet.

Die Namen der Verstorbenen lesen sich für Argentinier wie ein „Who is who“ der nationalen Geschichte – für uns Fremde sind sie weitgehend unbekannt, die Dimension ihrer Grabmäler lässt dennoch die Bedeutung der dort Ruhenden oder zumindest die von ihren Familien für sie gewünschte Achtung erahnen…

Ein Familiengrab aber, ungeachtet seines im Gesamtvergleich eher unauffälligen Erscheinungsbildes, ist Pflichtstation für wohl jeden in- wie ausländischen Besucher: Familia Duarte lautet die Aufschrift über dem anthrazitfarbenen Marmorportal, an dem unzählige Blumen von der Wertschätzung und schwärmerischen Verehrung künden, die der wichtigsten hier bestatteten Person auch bald 65 Jahre nach ihrem frühen Tod noch zuteil wird. María Eva Duarte de Perón, allgemein bekannt als Evita, war schon zu Lebzeiten als Gattin des charismatischen Präsidenten Juan Perón eine Heldin des einfachen Volkes. Ihr Krebstod mit nur 33 Jahren ließ sie dauerhaft zu einer Säulenheiligen der argentinischen Arbeiterklasse – aber nach wie vor auch einer Hassfigur der Oberschicht – werden. Musicals (Don’t Cry For Me, Argentina) und Filme (Hauptdarstellerin Madonna) verhalfen ihrer Lebensgeschichte zusätzlich zu globalem Bekanntheitsgrad.


Nach der Wanderung durch die Totenstadt (vom Ausmaß her wirklich eine Stadt in der Stadt) muss man erst einmal wieder umschalten, um zu realisieren, dass es auch ein Buenos Aires außerhalb der Friedhofsmauern gibt. Die Verbindung zwischen beiden Welten stellt die gleich nebenan liegende Pfarrkirche Nuestra Señora de Pilar dar – eine schlichte, schöne Barockkirche aus dem Jahre 1732, die von den Franziskanern errichet wurde.

Im daran angrenzenden Park bewundern wir einen riesigen Gummibaum – die Äste des im späten 18. Jahrhunderts gepflanzten Veteranen sind so dick und schwer, dass sie gestützt werden müssen, um nicht abzubrechen. Das imposante Gewächs wurde inzwischen zum Nationaldenkmal erklärt…

Eine Pflanze ganz anderer Art prangt dagegen auf der nahen Plaza de las Naciones Unidas. Seit 2002 öffnen sich hier allmorgendlich die Blütenblätter der aus Stahl und Aluminium bestehenden Floralis Genérica: ein überdimensionales Kunstwerk, das der argentinische Künstler Eduardo Catalano seiner Heimatstadt vermachte.

Wir flanieren anschließend durch die Avenida Alvear: La Recoletas Hauptgeschäftsstraße mit vornehmen Läden und einigen stilvollen Herrenhäusern, die an der Plazoleta Carlos Pellegrini endet – an ihr haben sich die Botschaften Brasiliens und Frankreichs angesiedelt.


Über die Avenida Santa Fe laufen wir allmählich zurück zu unserer Wohnung. Hier befindet sich eine der schönsten Buchhandlungen der Welt – Grund genug, dem El Ateneo Grand Splendid einen Besuch abzustatten, auch wenn unser Spanisch für eine Lektüre in der Landessprache sicher noch nicht gut genug ist. Wo sonst findet man eine riesige Auswahl an Büchern, CDs und DVDs schon in ähnlich stilvoller Umgebung wie hier, in dem 1919 eröffneten Theater und späteren Kino? Seit 2000 hat der edle Bau als Literaturtempel eine neue, beeindruckende Funktion erhalten.

Unser zweiter Besuchstag in Buenos Aires konzentriert sich auf das Stadtzentrum. Das Herz der offiziell knapp drei Millionen Einwohner zählenden Kapitale, in deren Metropolregion insgesamt aber über 13.000.000 Menschen leben, hat so viel Interessantes zu bieten, dass ein Besuchstag dafür gar nicht ausreicht. Wir beginnen unsere Erkundungen am Puerto Madero, dem früheren Frachthafen der Stadt am Río de la Plata.

1887 unter Leitung des Architekten Eduardo Madero fertiggestellt, sank die Bedeutung des Hafens jedoch bald, da die modernen, großen Schiffe aufgrund der recht geringen Wassertiefe hier nicht mehr vor Anker gehen konnten. Ein neuer Hafen wurde gebaut, der alte, unter anderem mit gewaltigen Lastkränen aus der DDR (VEB Kranbau Eberswalde) ausgestattete Puerto Madero verfiel zusehends.

1989 schließlich beschlossen mehrere staatliche Stellen die Umwandlung der zentrumsnahen Flächen zu einem modernen urbanen Stadtviertel mit maritimem Charakter – heute zeigt sich Puerto Madero infolge eines gründlichen Face-Liftings durch internationale Top-Architekten als schickes, trendiges Viertel mit Hochhäusern, Restaurants und Läden, in dem es sich schön am Wasser entlang spazieren lässt.


Eine besondere Attraktion stellt die elegante Puente de la Mujer (Frauenbrücke) dar, die seit 2001 eine neue Fußgängerverbindung zwischen den beiden Hafenseiten schafft.

Der politische und kulturelle Mittelpunkt von Buenos Aires liegt nur wenige hundert Meter vom alten Hafen entfernt. Schon das palastartige ehemalige Hauptpostamt, zwischen 1899 und 1928 in neoklassizistischem Stil errichtet, ist von herausragendem architektonischem und historischem Wert – inzwischen ist es Sitz des Centro Cultural Kirchner, benannt nach dem ehemaligen peronistischen Staatspräsidenten Néstor Kirchner. Dieser Name ist dem jetzigen konservativen Staatschef Mauricio Macri ein Dorn im Auge: Derzeit ist ein Gesetzgebungsverfahren im Laufen, das es verbieten soll, Einrichtungen nach Präsidenten zu bezeichnen, die weniger als 20 Jahre tot sind – was auf den 2010 verstorbenen Kirchner, dessen Frau Cristina ihm übrigens im Amt nachfolgte, zutreffen würde. Ein neuer Name ist bereits im Gespräch: Centro Cultural del Bicentenario soll das größte Kulturzentrum Lateinamerikas künftig heißen…

Die Symbolkraft dieses Namensstreits wird umso augenfälliger, macht man sich die Nähe des ehemaligen Hauptpostamts zur Casa Rosada bewusst – der Präsidentenpalast, im 19. Jahrhundert als Ersatz für ältere Bauwerke errichtet, liegt nur wenige hundert Meter entfernt.

Seine westliche, zur Stadt weisende Fassade markiert den Beginn des fraglos berühmtesten Platzes von Buenos Aires – hier erstreckt sich die Plaza de Mayo, benannt nach dem Befreiungsmonat Mai des argentinischen Befreiungsjahres 1810; Schauplatz eines grausamen Massakers im Jahre 1955, als hunderte von Perón-Anhängern bei einer Demonstration gegen die gerade errichtete Militärdiktatur von Bomben getroffen und getötet wurden; Versammlungsort der couragierten Mütter der Plaza del Mayo, die während der neuerlichen Militärdiktatur zwischen 1976 und 1982 hier allwöchentlich mit einem Schweigemarsch gegen das spurlose Verschwinden ihrer Töchter und Söhne demonstrierten. Noch immer ist das Schicksal vieler Vermisster unaufgeklärt; die Organisation besteht deswegen nach wie vor fort und hat auch bei unserem Besuch einen Info-Stand auf der Plaza aufgebaut.

Politische Kundgebungen sind hier an der Tagesordnung; von ihnen zeugen Banner und Plakate, aber auch Absperrgitter, die ständig aufgestellt bleiben und deren Durchgänge bei Bedarf schnell verschlossen werden können – auf dass die Demonstranten gebührenden Abstand zum Präsidentenpalast halten…

Natürlich darf auch die Erinnerung an Argentiniens nationales Trauma, den verlorenen Falkland-Krieg von 1982, nicht fehlen. Eine der Grünparzellen ist mit Kreuzen und einer Erinnerungstafel versehen, die an die gefallenen Helden in den damals geführten Kämpfen gegen Großbritannien erinnert.

Ihrer wird übrigens auch in der Catedral Metropolitana Santísima Trinidad de Buenos Aires gedacht, dem wichtigsten Sakralbau der argentinischen Hauptstadt – für heute Abend ist ein Gottesdienst zur Erinnerung an die „auf dem Felde der Ehre Gefallenen“ angekündigt. Die im 18./19. Jahrhundert entstandene erzbischöfliche Zentralkirche mutet von außen wie ein altgriechischer Tempel an und zeigt im Inneren einen Stilmix aus barocken und klassizistischen Elementen.


Besondere Bedeutung besitzt das in einer Seitenkapelle untergebrachte Mausoleum für General José de San Martín, den wohl meistverehrten Befreiungshelden Argentiniens. Seine hier ruhenden Gebeine werden ständig von einer Ehrenwache geschützt.

Am Hauptportal weist ein Plakat auf eine neue Ikone des stolzen argentinischen Volkes hin: Jorge Mario Bergoglio, 1936 in Buenos Aires geboren und lange Jahre Erzbischof der hiesigen Diözese, ist seit nunmehr fast vier Jahren unter dem Namen Franziskus der erste Papst aus Lateinamerika.

Zwei weitere auffällige Bauwerke stehen dicht nebeneinander an der südwestlichen Ecke der Plaza: das Cabildo, ehemaliger Regierungssitz des Vizekönigreichs Río de la Plata zu spanischen Kolonialzeiten, und das mit einem schlanken Turm geschmückte Rathaus der Stadt Buenos Aires – bis zu seiner Wahl zum Staatspräsidenten residierte Mauricio Macri hier als Bürgermeister; um seinen neuen Amtssitz zu beziehen, musste er also nur ans andere Ende der Plaza de Mayo wechseln.

Ein Bummel durch die belebte Fußgängerzone in den Calles Florida und Lavalle bringt uns unter anderem an der Pasaje Güemes vorbei – die älteste Einkaufsgalerie der Stadt aus dem Jahre 1915 besticht durch ihre Eleganz bis heute.

Und dann stehen wir auf der Avenida 9 de Julio: Mit 140 Metern Breite und abgezählten 18 Fahrspuren gehört sie zu den breitesten Straßen der Welt – und wirkt dennoch nicht beängstigend, denn Grünstreifen, Bushaltestellen und nicht zuletzt die zentrale Plaza de la República lockern die monumentale Hauptverkehrsachse der Stadt erheblich auf. Zudem erhebt sich mittendrin eines der Wahrzeichen der Stadt – der 67 Meter hohe Obelisk, der 1936 zur Eröffnung der Straße an der Stelle errichtet wurde, an der früher die Iglesia San Nicolás stand. Er erinnert daran, dass vom Turm jener Kirche zum ersten Mal die argentinische Flagge gehisst wurde.

Ein paar Blöcke südlich zweigen wir auf die Avenida de Mayo ab – eine Achse, die den Präsidentenpalast und den Congreso de la Nación, das imposante, 1906 errichtete Parlamentsgebäude an der großzügigen Plaza del Congreso, verbindet.

Unweit davon steht mit dem Palacio Barolo ein Bau, der so interessant ist, dass wir ihn genauer kennenlernen wollen und dafür eine Führung buchen.

Das vom italienischstämmigen Unternehmer Luis Barolo in Auftrag gegebene und von seinem Landsmann Mario Palanti zwischen 1919 und 1923 errichtete hundert Meter hohe Gebäude folgt in seinem Aufbau dem Weltentwurf des berühmtesten literarischen Werkes in italienischer Sprache – Dantes Göttlicher Komödie. Ihr entsprechend setzt sich das Hochhaus aus drei Teilen zusammen: der Hölle im Keller und Erdgeschoss, dem Fegefeuer vom ersten bis 14. Stockwerk und dem Himmel bis hinauf zum 22. Stock.



Die hundert Meter Höhe korrespondieren zu den hundert Gesängen der Göttlichen Komödie; und auch sonst steckt viel Zahlensymbolik in dem Werk: Insgesamt sieben Aufzüge – sechs vom Erdgeschoss bis in den 14. Stock, einer nach ganz oben – beherbergt der vor allem für Büros genutzte Bau. Teilt man die 22 Stockwerke durch sieben, erhält man die Kreiszahl π. Und demzufolge gruppiert sich der gesamte Bau auch um ein kreisrundes Zentrum…

Ganz oben angekommen, genießen wir einen herrlichen Rundblick über das nicht enden wollende Häusermeer von Buenos Aires, sehen aber auch den gewaltig breiten Río de la Plata und können dessen jenseitiges Ufer, das zu Uruguay gehört, erahnen – Anlass für Palanti, die Spitze seines Bauwerks mit einem Leuchtturm zu schmücken, dessen Licht bis in die uruguayische Hauptstadt Montevideo leuchten sollte, wo er einige Jahre später ein ähnliches, noch größeres Gebäude errichtete. Leider spielte da die Erdkrümmung nicht mit…



Die architektonische Bedeutung und die Ästhetik des Baus wurden nicht von allen Zeitgenossen auf Anhieb erkannt und gewürdigt; es gab auch viele abschätzige Stimmen. Heute ist man sich des Schatzes, der aus den 1920ern stammt, sehr wohl bewusst und kultiviert die Einrichtungsgegenstände der damaligen Zeit in einigen originalgetreu möblierten Büroräumen, in denen auch wir Besucher die Hutmode dieser Epoche ausprobieren dürfen.
