Rosario.
Sonntagvormittag in Buenos Aires: Die Straßen sind leer, die U-Bahnen ebenfalls, als wir unsere schöne Wohnung im Stadtteil La Recoleta verlassen und an den Busbahnhof fahren. Es hat abgekühlt, und mehrmals peitschen heftige Regenschauer über das flache Land, als wir aus der argentinischen Hauptstadt Richtung Nordwesten fahren. Nach vier Stunden haben wir das 300 Kilometer entfernte Rosario, die knapp eine Million Einwohner zählende, drittgrößte Stadt Argentiniens, erreicht – unser vorerst letztes Ziel in diesem riesigen Land. Unsere Unterkunft, das Hostal La Lechuza, liegt recht zentral; zusammen mit der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Betreiber ist das der wichtigste Pluspunkt – Komfort, Sauberkeit und Ruhe lassen dagegen zu wünschen übrig. Davon war in dem Reiseführer, auf dessen Empfehlung wir das Zimmer gebucht hatten, nichts gestanden…
Am Montag beginnen wir damit, das aus einer kleinen Siedlung im 18. Jahrhundert zu einer bedeutenden Industrie- und Universitätsstadt herangewachsene Rosario zu erkunden. Es erstreckt sich über eine weite Fläche am Südufer des breiten Río Paraná – wir sind an einem der großen Flüsse Südamerikas; er kommt aus Brasilien und bildet über hunderte von Kilometern die paraguayische Grenze zu Brasilien und Argentinien, wo er sich schließlich kurz vor Buenos Aires mit dem Río Uruguay zum gewaltigen Mündungstrichter des Río de la Plata vereinigt.

Die einstigen Hafenanlagen in Zentrumsnähe sind längst zu klein für die riesigen Handelsschiffe geworden, die heute den Fluss befahren – doch die Stadt Rosario hat die Gebäude nicht verkommen lassen, sondern sie umgestaltet und teilweise für kulturelle Zwecke, teilweise aber auch als schöne Lokale mit Blick aufs Wasser einer sinnvollen neuen Nutzung zugeführt.

Auch der alte, längst stillgelegte Hauptbahnhof hat mit den auf wenige hundert Meter erhaltenen Gleisen, den gepflegten Backsteinbauten und seiner neuen Nutzung als Museum einen nostalgischen Charme bewahrt.

In Sichtweite des Flusses steht auch das Wahrzeichen Rosarios und die meistbesuchte Touristenattraktion der Stadt: das Monumento Histórico Nacional a la Bandera, ein nach 14-jähriger Bauzeit 1957 fertiggestelltes gewaltiges Denkmal, das an das erstmalige Hissen der argentinischen Nationalflagge durch General Manuel Belgrano im Jahre 1812 auf einer Flussinsel am gegenüberliegenden Ufer des Paraná erinnert.

Das Untergeschoss des Denkmals ist heute das Mausoleum für den Freiheitskämpfer.

Mit einem Aufzug fahren wir den 70 Meter hohen Turm hinauf – der Fahrstuhlführer fragt uns, woher wir kommen, und freut sich, dass er uns auf Deutsch begrüßen kann. Ja, ab und zu kommen auch Ausländer hierher, erzählt er uns. Neulich zum Beispiel Schweizer, denen gegenüber er erwähnte, dass Rosario ja nicht weit von Buenos Aires entfernt liegt – nur vier Busstunden. Worauf die Gäste aus dem Alpenland ihm entgegneten: „Vier Stunden! Da kann man ja die komplette Schweiz durchqueren!“ Tja, europäische und südamerikanische Vorstellungen von Nähe sind eben unterschiedlich… Von oben genießen wir einen weiten Blick über den Fluss auf die unbebauten grünen Inseln, aber auch über die in Ufernähe von zahlreichen Hochhäusern gebildete Stadtsilhouette. Wohnungen mit Blick aus der Großstadt in die Natur sind begehrt und dementsprechend teuer…

Das Monument besteht im Übrigen nicht nur aus dem Turm, sondern auch noch aus einem großen Vorplatz und einer gewaltigen Säulenhalle, in der ein ewiges Feuer an den Unbekannten Soldaten erinnert. Eigentlich ein fast totalitär anmutender Baustil, doch die Argentinier nehmen durch ihre lockere Art dem Platz das einschüchternde Element. Hier wird geplaudert, Sport getrieben, flaniert…

Als wir am Dienstag noch einmal vorbeikommen, sehen wir, dass dieser Platz sich auch bestens für Demonstrationen eignet. Direkt vor dem Turm spielt eine Rockband, die die Anliegen der vorwiegend weiblichen Demonstranten lautstark unterstützt.

Wenn Rosario ein Stadtzentrum hat, dann kann man am ehesten die gleich hinter dem Denkmal befindliche Plaza 25 de Mayo, in deren Mitte sich eine Freiheitssäule befindet, als solches bezeichnen. Hier erhebt sich die aus dem späten 19. Jahrhundert stammende erzbischöfliche Catedral de Nuestra Señora del Rosario, hier steht gleich daneben auch der aus der selben Epoche stammende Palacio de los Leones, in dem sich das Rathaus der Stadt befindet.


Von der Plaza aus erstreckt sich die mit einer Reihe sehenswerter Gebäude bestandene Calle Córdoba, die geschäftige, als Fußgängerzone gestaltete Haupteinkaufsstraße Rosarios. Besonders beeindruckt sind wir von dem stilvollen, auf das Jahr 1889 zurückgehenden Kaufhaus Falabella.


Zum Bummeln und Flanieren lädt auch der einige Blocks entfernte, dazu quer verlaufende Bulevar Nicasio V. Oroño ein. Die breiteste Straße der Stadt ist in der Mitte mit schattigen Palmen bepflanzt und bietet vor allem in Flussnähe viele Möglichkeiten für einen gepflegten Kneipenbummel.

Dabei sind es vor allem Einheimische, die die Lebensqualität in Rosario schätzen und nutzen – als „normale“ Stadt ist sie keine bevorzugte Touristenattraktion. Viele Fremde, die hierher kommen, machen sich jedoch auf die Spurensuche nach einem weltbekannten Sohn der Stadt, den man zunächst vielleicht gar nicht mit Argentinien in Verbindung bringen würde: Ernesto „Che“ Guevara. Der als Kampfgenosse von Fidel Castro bekannte und durch seine Ermordung in Bolivien zur Ikone gewordene Revolutionär wurde 1928 hier geboren – um sein Geburtshaus zu finden, muss man aber schon die genaue Adresse wissen, denn nicht der kleinste Hinweis hilft dem Besucher bei der Suche. 1992 war die Installation einer Plakette geplant – doch nach der Detonation einer Granate vor dem Gebäude, in dem heute eine Sicherheitsfirma ihre Büroräume hat, nahm man wieder Abstand davon.

Der einzige Hinweis auf diesen legendären Sohn der Stadt gibt ein kleiner, nahegelegener Park mit einem überdimensionalen Konterfei von Che an einer Wand. Auch fast 50 Jahre nach dem Tod ist Guevaras Vermächtnis nach wie vor eine heikle Angelegenheit, an der sich in Argentinien je nach politischer Positionierung die Geister komplett scheiden…

Weniger konfliktträchtig dagegen ist ein ganz anderer Weltstar, dessen Geburtsort ebenfalls Rosario lautet – es sei denn, man ist Fan von Real Madrid. Lionel Messi, fünffacher Weltfußballer und Kultfigur beim FC Barcelona, hat seiner Heimatstadt allerdings auch schon lange „Lebewohl“ gesagt und spielt seit dem Jahre 2000 in der katalanischen Metropole. Trotzdem können wir ein bisschen von der Aura des begnadeten Dribblers und Torjägers einfangen. Die VIP-Bar unweit des Monumento Histórico Nacional a la Bandera gehört dem argentinischen Superstar; und bei einem Bierchen in dieser schön gelegenen Kneipe sieht man den überdimensionalen Messi auf Leinwänden in voller Aktion…

Bevor der junge Lionel Rosario verließ, kickte er für einen der beiden großen Vereine der Stadt – die Newell’s Old Boys. Ihr Estadio Marcelo Bielsa, das Platz für 42.000 Besucher bietet, liegt mitten im ausgedehnten Parque de la Independencia, in dem sich unter anderem auch ein schön angelegter kleiner See befindet. Eine Oase der Ruhe in der großen Stadt – doch davon hat Rosario noch mehr zu bieten.



Dazu muss man nur zur Estación Fluvial gehen, ein Fährticket kaufen und in einer knapp viertelstündigen Bootsfahrt auf die andere Seite des Río Paraná übersetzen.


Schon ist man auf der Isla Celeste, einer Flussinsel im gewaltigen braun schimmernden Strom, gelandet – hier gibt es nur ein paar Strandbars, sonst stört nichts die Ruhe am feinen weißen Flussstrand. Die Einheimischen gehen hier auch gerne zum Baden; wir trauen der Wasserqualität nicht so ganz und beschränken uns deswegen auf einen ruhigen Nachmittag unter schattigen Bäumen.

Den zweiten Strand, im Norden Rosarios auf der Stadtseite gelegen und noch einfacher per Bus zu erreichen, besuchen wir am nächsten Nachmittag. Auch hier ist der Sand weiß, auch hier fließt der breite Paraná gemächlich dahin; allerdings ist wesentlich mehr los als drüben auf der Insel. Klar, denn die Anfahrt ist ja auch unkomplizierter und günstiger…

Von hier blicken wir auf eines der modernsten Bauwerke Rosarios, erst 2003 fertiggestellt, aber von enormer Bedeutung für den ganzen Nordosten Argentiniens: die mehr als vier Kilometer lange Puente Nuestra Señora del Rosario, die die Provinzen Santa Fe und Entre Ríos über den Paraná hinweg verbindet. Sie ist aber nur der Anfang eines ganzen Systems aus Brücken, Viadukten und Dämmen – zusammengenommen überqueren sie sage und schreibe 59 Kilometer des ausgedehnten Überschwemmungsgebiets, das der gewaltige Fluss in seinem Unterlauf bildet. Die Pläne stammen übrigens von deutschen Architekten…
