Colonia del Sacramento.
Es regnet, als wir Montevideo am Montag verlassen. Drei Stunden braucht der Linienbus, der unterwegs in vielen kleinen Orten hält, für die etwa 170 Kilometer westwärts nach Colonia del Sacramento. Hier waren wir vor vier Tagen ja schon einmal: Die Fähre von Buenos Aires landete hier an. Damals fuhren wir gleich weiter in die urugayische Hauptstadt – Grund dafür war der Karnevalsumzug dort, den wir sonst nicht hätten miterleben können. Jetzt sind wir zurück in der wohl sehenswertesten Stadt des Landes; nicht umsonst ist sie seit 1995 in der UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgeführt. Unsere Unterkunft, das El Viajero B&B, liegt in einer ruhigen Seitenstraße zentrumsnah direkt am Río de la Plata – optimal für die Erkundung der Stadt, die wir bei immer besser werdendem Wetter am Dienstag beginnen.

Colonia, wie der Ort von den Einheimischen kurz genannt wird, blickt landesweit auf die längste Geschichte zurück: 1680 wurde die Stadt als Festung vom Portugiesen Manuel Lobo im Auftrag seines Königs gegründet. Lobo war Gouverneur von Rio de Janeiro, und der neu gegründete Ort am Río de la Plata, direkt gegenüber vom schon 150 Jahre alten spanischen Buenos Aires, sollte helfen, die portugiesischen Kolonialgebiete zu schützen. Wie zu erwarten war, reagierten die Spanier nicht begeistert auf die Neugründung: Sie besetzten das Fort, mussten es aber ein Jahr später an Portugal zurückgeben. Mehrmals wechselten die Herrschaftsverhältnisse im Laufe der nächsten hundert Jahre, ehe Spanien 1777 die Stadt endgültig zugesprochen bekam.

Innerhalb der alten Festungsmauern lassen sich die Spuren dieser bewegten Vergangenheit auf altem Kopfsteinpflaster und in stimmungsvollen schmalen Gassen bestens nachverfolgen. Unser Weg ins Barrio Histórico beginnt an der malerischen Puerta de Campo, dem Stadttor an der Bastión de San Miguel, die die auf einer kleinen Halbinsel gelegenen Stadt an der Südseite vor feindlichen Angriffen schützen sollte.

Von hier ist es nicht weit zur Plaza Mayor und den pittoresken Gässchen, die von ihr abzweigen; allen voran die Calle de los Suspiros mit malerisch verwitterten Fassaden.


Die schön gestaltete Uferpromenade lädt zum Flanieren am Fluss ein; dazwischen steht an der Plaza Manuel Lobo mit der Basílica del Santísimo Sacramento die älteste Kirche Uruguays – sie geht bis aufs Gründungsjahr 1680 zurück.

Colonia del Sacramento ist wohl Uruguays bedeutsamstes Betätigungsfeld für Archäologen – präkolumbische Ruinenstätten gibt es hier an der Ostküste Südamerikas nicht, doch innerhalb der Altstadt wurden immerhin die Grundmauern der ersten portugiesischen Verwaltungsgebäude freigelegt und die halbverfallenen Ruinen des Convento de San Francisco restauriert.


Auf zwei Molen – eine zum Yachthafen gehörig, die andere ein Überbleibsel des alten Handelshafens – kann man den weiten Blick über den Río de la Plata genießen und die Seele baumeln lassen.


Genauso schön ist es, einfach durch die Straßen Colonias zu schlendern. Die historischen Fassaden, die schattigen Platanenalleen, die am Straßenrand abgestellten und zum Teil liebevoll dekorierten Oldtimer, die aus Azulejo-Fliesen gefertigten Straßenschilder, der sorgfältig restaurierte, seit langem stillgelegte alte Bahnhof – das alles trägt zum ganz besonderen Flair dieses Städtchens bei. Trotz der zahlreichen Touristen geht das Leben hier seinen geruhsamen Gang, und man kann gar nicht anders als ebenfalls zu entschleunigen…



Eine kleine Fahhradtour am Mittwochnachmittag bietet uns die Möglichkeit, die mehrere Kilometer lange Bucht, die sich im Nordosten der Stadt am Fluss entlang zieht, kennenzulernen und auch zwei monumentale Bauwerke am Stadtrand zu besuchen, die beide aufs Jahr 1910 zurückgehen und mittlerweile, wie so manches in Uruguay, gepflegt dem allmählichen Verfall entgegendösen: eine ehedem 8.000 Zuschauer fassende Stierkampfarena. Pech, dass die uruguayische Regierung schon zwei Jahre später den Stierkampf verbot… Unweit davon entfernt steht der Frontón Euskaro. Es ist Südamerikas größtes Stadion für den aus dem Baskenland stammenden Rückschlagsport Pelota.


Ein wunderschöner Sandstrand am Río de la Plata lädt uns anschließend zum Ausruhen ein, ehe wir zurück in die Stadt fahren. Auch ein Bad im sauberen Rio tut bei dem heißen Wetter gut.
Wir wollen rechtzeitig zurück sein, um vom Faro, dem in den Ruinen des Franziskanerklosters errichteten Leuchtturm, den Blick auf die Stadt und vor allem über den gewaltig breiten Fluss – er bildet den größten Mündungstrichter der Welt – zu genießen.


Der ist jetzt, gegen Sonnenuntergang, traumhaft: Langsam versinkt der orangerote Feuerball im Westen – und zwar genau hinter der von hier oben besonders gut sichtbaren Silhouette der Skyline von Buenos Aires. Gut 50 Kilometer Luftlinie ist die argentinische Hauptstadt von hier entfernt und wirkt auf einmal wieder ganz nah. Ein beeindruckendes Schauspiel…


Ähnlich, bei etwas mehr Wolken, hatten wir den Sonnenuntergang auch gestern schon erlebt – da allerdings auf einer Parkbank direkt am Fluss neben der Stadtmauer und mit einer Flasche Wein im Gepäck. Es war an der Zeit, anzustoßen auf die Halbzeit: Am 14. August sind wir von daheim aufgebrochen, jetzt sind genau sechs Monate vergangen. Auf dass die zweite Hälfte unserer Reise ähnlich erlebnisreich und komplikationslos verläuft, bis wir Mitte August nach Deutschland zurückkehren!



Ein erster Baustein unserer Weiterreise begegnet uns gleich noch am Abend unseres letzten Tages in Colonia. Doch dazu zunächst eine Vorbemerkung: Seit wir in Uruguay sind, wurden wir schon mehrfach von Einheimischen gefragt, ob wir aus Brasilien kommen – einerseits nicht ganz verwunderlich, denn diese Vermutung liegt hier wohl am nächsten, wenn man auf Gäste trifft, deren Muttersprache nicht Spanisch ist. Andererseits: Wir sehen doch eigentlich nicht aus wie Brasilianer?! Dachten wir, doch zwei Begegnungen des heutigen Tages lassen uns das in einem anderen Licht sehen. Auf dem Leuchtturm spricht uns ein Ehepaar auf Deutsch an und fragt, woher wir kommen. Es spricht einen uns unbekannten, altertümlich anmuntenden Dialekt; als wir sie fragen, woher sie stammen, nennen sie einen uns nicht bekannten Ort im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul. Vor fast 200 Jahren sind die Vorfahren aus dem Hunsrück ausgewandert, die deutsche Sprache wird in den Familien neben dem Portugiesischen nach wie vor gepflegt. In dieser Gegend Brasiliens gehören die Deutschstämmigen zu den größten Bevölkerungsgruppen. Eine weitere Begegnung am Abend in einem Lokal bestätigt das. Wieder werden wir angesprochen, weil wir Deutsch sprechen; diesmal von einem Brasilianer, dessen Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg aus Böhmen ausgewandert sind. Sein Deutsch ist zwar nur bruchstückhaft, doch er arbeitet daran und besucht deswegen jede Woche einen Sprachkurs. Er zeigt uns auf seinem Handy begeistert Bilder aus seiner Heimatstadt São Bento do Sul; dort gibt es Kneipen mit Namen wie Treffpunkt und Stammtisch, jedes Jahr findet das große Schlachtfest statt. Adäquat gekleidet ist man zu diesem Anlass mit weiß-blau kariertem Hemd und Lederhose, wie die Fotos eindeutig belegen. Was es dort zu trinken gibt, ist klar: Bier natürlich! Und das Allerbeste: Unser neuer Bekannter, im Hauptberuf Rechtsanwalt, betreibt seit fünf Jahren nebenbei eine kleine Brauerei und lädt uns ein, ihn in seiner Heimat zu besuchen und natürlich sein Bier zu probieren. Die Einladung schlagen wir nicht aus…!
