Blumenau.
Das Reisen in Brasilien stellt uns vor eine neue Herausforderung: Sieben Monate lang kamen wir mehr oder weniger gut mit Spanisch durch, doch nun ist die Landessprache Portugiesisch. Das Reisen in Brasilien beschert uns aber auch eine weitere, sehr positive Erfahrung: Die Liebenswürdigkeit und Freundlichkeit der Menschen ist einfach umwerfend und hilft uns über die sprachlichen Barrieren immer wieder hinweg – schon als wir am Busbahnhof in Porto Alegre die Tickets für die nächste Etappe kauften, erlebten wir das: Der Angestellte fragte uns, aus welchem Land wir kommen, tippte dann seine Erklärung in Google Übersetzer ein, und wir bekamen die gewünschte Auskunft auf dem Bildschirm in Deutsch.
Nach über achtstündiger Busfahrt parallel zur Atlantikküste im von Hochhäusern geprägten Badeort Balneário Camboriú angekommen, müssen wir uns jetzt wieder durchfragen, denn Ziel unserer heutigen Etappe ist das etwa 65 Kilometer landeinwärts gelegene Blumenau. Aber auch da wird uns geholfen: Ein junger Brasilianer, der Englisch spricht, erkundigt sich, wohin wir wollen, geht mit uns zusammen an den Schalter und steht als Helfer bei Verständigungsschwierigkeiten bereit.
Obwohl die restliche Fahrtstrecke also nicht mehr weit ist, dauert es noch einmal zwei Stunden, bis wir unser Ziel endlich erreicht haben – erstens hält der Bus zwischendurch noch in einigen Orten, und zweitens herrscht an diesem Freitagabend dichter Feierabendverkehr. Es ist unübersehbar, dass Brasilien zumindest hier an der Küste wesentlich dichter besiedelt ist als Uruguay… Wir sind froh, dass wir wieder einen langen Reisetag gut hinter uns gebracht haben, steigen im für unsere Verhältnisse recht vornehmen Himmelblau Palace Hotel ab und genießen in einer netten Kneipe in der nahen Fußgängerzone noch ein gutes Bier zum Abendessen.

Die Stadt heißt Blumenau, das Hotel trägt den schönen Namen Himmelblau – schon das verweist darauf, dass diese über 330.000 Einwohner zählende Stadt genau wie viele andere Orte im Bundesstaat Santa Catarina und im gesamten Süden Brasiliens unverkennbar deutsche Wurzeln hat. Ein deutschstämmiger älterer Kellner drückt dies in seinem Hunsricker Dialekt so aus: „Die Deitschen sind wie die schwarzen Bohnen: Sie breiten sich ieberall aus!“ Ein Bummel durch die Haupteinkaufsstraße, die Rua XV de Novembro, am nächsten Vormittag macht die Ursprünge Blumenaus noch augenfälliger. Zahlreiche Fachwerkfassaden sorgen für ein Flair, das grundverschieden ist von dem, was man normalerweise in Südamerika zu Gesicht bekommt – auch wenn diese zum Großteil noch recht jungen Datums sind, wie zum Beispiel die in den 1970er Jahren nach dem Vorbild des mittelalterlichen Rathauses von Michelstadt (Hessen) errichtete Casa Moellmann. Auffällig und wohl auch ein Stück gelebter deutscher Tradition: Noch in keiner südamerikanischen Stadt sind wir auf derart ordentlichen und intakten Gehsteigen gelaufen wie hier…

Ein Straßenschild weist darauf hin, dass diese belebte Einkaufsmeile früher den Namen Wurststrasse trug – noch Anfang des 20. Jahrhunderts war Deutsch hier mit großem Abstand die wichtigste Sprache, ehe allmählich die Zuwanderung aus anderen Landesteilen Brasiliens und auch aus anderen europäischen Ländern zunahm. Dass Deutsch heute als Umgangssprache in der Stadt keine Rolle mehr spielt (auf dem Land ist dies immer noch anders, wir haben in Uruguay deutschsprechende Brasilianer mit ihrem eigentümlichen Dialekt getroffen), ist zum einen diesem Bevölkerungswandel geschuldet, beigetragen hat dazu aber auch das Verbot der deutschen Sprache während der Nazizeit.


Heutzutage werden die deutschen Ursprünge und Traditionen in der Stadt aber wieder hochgehalten und gepflegt. Das wohl beste Beispiel dafür ist das Museu da Família Colonial – es erzählt die Lebensgeschichte und den Alltag der Familie von Stadtgründer Dr. Hermann Blumenau. Der in Hasselfelde im Harz geborene Apotheker bereiste Brasilien zunächst ausgiebig und gründete dort 1850 dann mit 17 anderen Kolonisten eine kleine Ansiedlung im subtropischen Süden des Landes direkt am Fluss Itajaí.



Trotz großer Schwierigkeiten gab Dr. Blumenau nicht auf und übergab schließlich 1860 die Kolonie ans damalige Kaiserreich Brasilien, das ihn zum ersten Direktor ernannte. Allmählich wuchs der Ort heran, obwohl katatstrophale Überschwemmungen wiederholt schwere Schäden anrichteten und sogar dazu führten, dass Blumenau seine letzten 15 Lebensjahre wieder im heimatlichen Braunschweig verbrachte – seine Familie hatte ihn förmlich dazu gezwungen.

Doch die Stadt, die seinen Namen trägt, vergaß ihren Gründer nicht – 1974 wurden die Gebeine der Familie schließlich nach Brasilien überführt und in einem Mausoleum gleich neben dem Museum bestattet. Das gibt’s im Übrigen bereits seit 1967; in diesem Jahr starb Edith Gaertner, die Großnichte von Hermann Blumenau, die das Wohnhaus der Gründerfamilie bewohnt hatte und die Umwandlung zum Museum testamentarisch festgelegt hatte.


Die allein lebende Nachfahrin des Stadtgründers hatte als junge Frau eine hoffnungsvolle Karriere als Schauspielerin in Europa gestartet, ehe sie nach Brasilien zurückging, weil ihre Brüder zuhause krank geworden waren und sie sich um das Familienanwesen kümmern musste. Sie legte einen schönen kleinen Park mit vielen Palmen an und linderte ihre Einsamkeit, indem sie zahlreiche Katzen hielt. Diese liegen nun auf einem eigenen Katzenfriedhof begraben…


So interessant gerade für uns als Deutsche die Geschichte Blumenaus ist – landesweite Bekanntheit hat die Stadt in den letzten Jahrzehnten durch das Oktoberfest erreicht, das hier seit 1984 alljährlich veranstaltet wird und inzwischen nach dem Karneval von Rio als zweitgrößtes Fest Brasiliens gilt. Angefangen hat alles nach zwei schweren Überschwemmungen: Man suchte in Blumenau nach Ideen, wie man Geld für den Wiederaufbau der zerstörten Stadtteile einnehmen könnte und kam schließlich auf den Gedanken, das schon seit Langem nach deutscher Tradition gebraute Bier zum Anlass für ein Bierfest zu nehmen. Und was lag da näher, als eine Kopie des weltberühmten Münchner Oktoberfests aufzuziehen?

Der Erfolg gab den Initiatoren recht – die Brasilianer kamen in Scharen, und so wurde daraus eine feste Einrichtung, die mittlerweile jedes Jahr weit über eine halbe Million Besucher anlockt. Auf dem Festgelände, ursprünglich für Ausstellungen konzipiert, entstand im Laufe der Zeit der Parque Vila Germânica – er besteht heute aus einigen Straßenzügen mit Fachwerkhäusern und einem Maibaum wie in einem bayerischen Dorf. Zahlreiche Andenkenläden, dazu Cafés und Restaurants haben sich hier angesiedelt: Sie sind ganzjährig geöffnet und bieten neben diversen Biersorten der lokalen Brauereien alle nur erdenklichen Souvenirs an, die in irgendeiner Form mit Deutschland zu tun haben: T-Shirts mit schwarz-rot-goldenen Aufdrucken, Bierkrüge aus Zinn und Ton mit Motiven wie Neuschwanstein, Rothenburg, Köln oder Berlin, Schlüsselanhänger, Flaschenöffner und, und, und…



Dass das alles äußerst touristisch ist, steht außer Zweifel; trotzdem ist es interessant, wie beliebt offensichtlich deutsche Traditionen hier in Brasilien sind – und ein Besuch in einem Restaurant bietet uns außerdem mal wieder Gelegenheit zu einem deutschen Mittagessen: Eisbein mit Sauerkraut oder Schweinemedallions mit Spätzle schmecken tatsächlich richtig lecker, so gut wie daheim!

Dass das Deutschlandbild, das hier vermittelt wird, natürlich recht einseitig ist und der Lebenswirklichkeit im 21. Jahrhundert nicht gerade entspricht, steht auf einem anderen Blatt. Das bekommen wir seit Tagen auch beim WhatsApp-Schriftverkehr mit unserem Reisebekannten Renato mit, den wir vor einem Monat in Uruguay kennengelernt haben. Der junge Jurist aus dem nur zwei Fahrstunden entfernten São Bento do Sul, der vor einigen Jahren unter die Bierbrauer gegangen ist, hat selbst deutsche Vorfahren und lernt gerade unsere Sprache. Er hatte uns ja eigentlich eingeladen, aber… im Moment hat er sehr viel zu tun, weil in drei Wochen ein Fest stattfindet, an dem sein Bier ausgeschenkt wird. Am Osterwochenende hätte er wieder Zeit, da sind wir allerdings längst weiter. Trotzdem zeigt er sich höchst begeistert, als wir ihm Bilder schicken vom Mittagessen in Blumenau: „In Oktoberfest! Germânica Dorf Park! Sie essen Eisbein! Und trinke Bier!“ Er verrät uns auch, dass er übers Internet sehr gerne den Sender Radio Heimatmelodie hört. Wir wollen ihn nicht desillusionieren und schreiben ihm deswegen nicht, dass diese Art von Musik bei uns zuhause eher eine ganz andere Altersgruppe anspricht als die seine… Wenn er sich eines Tages tatsächlich seinen erklärten Traum erfüllen sollte, das Land seiner Großeltern zu besuchen und hier einen vierwöchigen Brauerkurs zu belegen, wird er seine Vorstellungen von Deutschland ohnehin deutlich verändern müssen.


Wir lassen unseren zweiten Abend in Blumenau in derselben Straßenkneipe ausklingen wie gestern – doch am heutigen Samstag ist hier deutlich mehr los, und das ist kein Wunder: Eine örtliche Band spielt richtig guten Blues, ihr Name lautet Léo Maier e Trio! Für alle Leser aus meiner Heimatstadt Rain: Nein, trotz der frappierenden Namensähnlichkeit handelt es sich bei dem Mann an der Gitarre nicht um den 2. Bürgermeister…
