Encarnación.
Es regnet, als wir Ciudad del Este am Sonntagvormittag verlassen – kein Problem für uns, wir sitzen sowieso mal wieder fünf Stunden im Bus. Unser Weg führt heute südwärts, immer parallel zum Río Paraná, nach Encarnación, eine Stadt im äußersten Südosten von Paraguay. Am Busbahnhof angekommen, erkundigen wir uns nach dem Weg und laufen zum Hotel Puesta del Sol, in dem wir für drei Nächte ein Zimmer gebucht haben. Unterwegs hat es irgendwann zu regnen aufgehört; und als wir rechtzeitig zum Sonnenuntergang die paar hundert Meter ans Flussufer hinunterlaufen, kommen wir aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Paraná baut sich eine beeindruckende Hochhaussilhouette auf: Dort drüben liegt Posadas, die über 250.000 Einwohner zählende Hauptstadt der argentinischen Provinz Misiones. Die imposante, 1.610 Meter lange Schrägseilbrücke Puente Internacional San Roque González de Santa Cruz verbindet das knapp halb so große Encarnación mit der Schwesterstadt im Nachbarland. Zwischen beiden Seiten gibt es seit heute Nacht übrigens eine einstündige Zeitdifferenz; das liegt daran, dass Paraguay die Uhren von der Sommer- auf die Winterzeit zurückgestellt hat, während Argentinien ganzjährig die gleiche Zeit hat. Weil Europa gleichzeitig die Zeit in die entgegengesetzte Richtung verstellt hat, beträgt der Unterschied zur Heimat nun plötzlich sechs statt vier Stunden…


Winterzeit: eigentlich ein unzutreffender Begriff, denn die Temperaturen hier in Encarnación sind nach einem bewölkten Tag bereits am Montag wieder hochsommerlich und übersteigen deutlich die 30-Grad-Marke. Schönster Teil der in Paraguay auch als Perle des Südens bezeichneten Stadt ist eindeutig das moderne Flussufer, die Costanera. Sie hat echtes Strandflair: Feiner Sand ist aufgeschüttet, Bars und Imbissbuden warten auf Gäste, und tatsächlich herrscht hier in der Hochsaison offenkundig äußerst reger Badebetrieb – eine Meeresküste besitzt das Binnenland Paraguay schließlich nicht.

Weit über die Landesgrenzen hinaus ist Encarnación für seinen Karneval bekannt. An sechs Samstagen im Januar und Februar wird hier ein ausgelassener Straßenkarneval gefeiert, der nach dem in Rio de Janeiro der zweitgrößte des Kontinents sein soll. Wenn wir das eigens dafür errichtete Sambadrom mit seinen zahlreichen Tribünen so betrachten, können wir uns in etwa eine Vorstellung von der Größenordnung dieser Veranstaltungen machen – das ist wohl noch eine andere Hausnummer als der Desfile de Llamadas, den wir in Montevideo gesehen haben!


Trotz seiner bereits vierhundertjährigen Geschichte – Encarnación wurde im Jahr 1615 gegründet – finden sich in der Stadt kaum historisch bedeutsame Bauwerke. So kommt es, dass die direkt am Fluss liegende ehemalige Mühle San José, die aus den 1930er Jahren stammt, samt angegegliederten Speichersilos inzwischen von der Kommune unter Denkmalschutz gestellt und liebevoll restauriert worden ist.

Selbst die inzwischen zur Kathedrale erhobene Hauptkirche der Stadt ist kein Bau aus alter Zeit, sondern wurde zwischen 1928 und 1938 errichtet – übrigens auf Initiative des deutschstämmigen Padre José Kreusser. Ja, auch hier in Paraguay finden sich viele Spuren deutschsprachiger Auswanderer: Namen von Betriebsinhabern, Orte mit Bezeichnungen wie Hohenau, ein Hotel Tirol de Paraguay, ein junger, deutschsprechender Kellner oder die Bar Austria mit einem Besitzer, der aus Kärnten stammt, sind nur ein paar Beispiele, auf die wir hier stoßen. Eine andere Geschichte ist, dass auch der berüchtigte KZ-Arzt Josef Mengele hier in der Gegend jahrelang Unterschlupf fand und sogar die paraguayische Staatsbürgerschaft erhielt.

Doch gerade die Gegend von Encarnación scheint bevorzugtes Ziel von Emigranten aus aller Herren Länder gewesen zu sein. Dies zeigt sich zum Beispiel an einer architektonischen Besonderheit an der Plaza de Armas: Dort finden wir nämlich, für Südamerika sehr ungewöhnlich, eine orthodoxe Kirche! Sie wurde von Einwanderern aus Russland und der Ukraine erbaut.


Ein anderer Beleg für die kulturelle Vielfalt dieser Gegend findet sich im Angebot vieler Imbissbuden. Der Lomito Árabes ist das Gegenstück zum Döner Kebab in unseren Breitengraden: Rind- oder Hähnchenfleisch vom Drehspieß mit verschiedenen Zutaten und Gewürzen, in einen dünnen, knusprigen Fladen gewickelt – schmeckt richtig gut und ist ein Mitbringsel libanesischer Christen, die Ende des 19. Jahrhunderts als verfolgte Minderheit im damaligen Osmanischen Reich eine neue Heimat suchten.

Doch wie bunt der Völkermix hier am Río Paraná auch sein mag – die indigenen Guaraní stellen, insbesondere auf dem Lande, eindeutig die Bevölkerungsmehrheit und haben auch ihre Sprache beibehalten. Muttersprache der Mehrzahl der Bevölkerung ist deswegen nicht Spanisch, obwohl dieses natürlich als Zweitsprache von allen verstanden und gesprochen wird. Das kommt uns zugute, denn dadurch sprechen die Paraguayer keinen so starken Dialekt und deutlich langsamer, als wir das zuletzt in Uruguay und Argentinien erlebt haben.
Und damit sind auch längere Unterhaltungen möglich – wir erleben es, als wir an einer kleinen Imbissbude vorbeikommen und Halt machen, weil dort auf einer Tafel Tereré angepriesen wird. Es handelt sich um ein typisch paraguayisches Getränk: Der Mate-Tee wird wegen der hohen Temperaturen hier nicht heiß, sondern mit Eiswasser aufgegossen und mit dem Röhrchen, der Bombilla, aus einem schlanken Gefäß, Guampa genannt, getrunken. Ein Einheimischer würde wohl seine Thermoskanne mitbringen und sie einfach mit kaltem Wasser auffüllen lassen; uns dagegen fehlt diese Grundausrüstung. Als wir erzählen, dass wir aus Deutschland kommen und Tereré gern probieren möchten, setzt sich die Besitzerin gleich zu uns, und wir beginnen ein längeres, sehr nettes Gespräch, zu dem sich nach einiger Zeit auch noch eine Bekannte, eine ältere, aus Argentinien stammende Dame, gesellt. Am Ende müssen wir der Inhaberin förmlich ein klein wenig Geld aufdrängen – sie wollte partout nichts von uns nehmen für den richtig erfrischenden Eistee!

Wir laufen ein paar hundert Meter zum Strand hinunter, weil wir eigentlich einen Lomito Árabes essen wollten – aber während wir fragen, spricht uns ein Mann an, der dort gerade etwas trinkt. Woher wir kommen, wie wir heißen – und dann lädt er uns umstandslos auf einen Drink ein: „Das ist paraguayische Gastfreundschaft!“
Es gibt noch ein drittes, ähnliches Erlebnis an diesem Tag. Vormittags haben wir mal wieder unsere Klamotten in eine Wäscherei gebracht, nun können wir sie abholen. Als wir bezahlen wollen, hat die Inhaberin nicht das passende Kleingeld zum Herausgeben. Was nun? Die gute Frau gibt uns statt 40.000 einfach einen 50.000-Guaraní-Schein, das sind gut 1,50 € mehr, zurück, fragt uns nach unserer Herkunft, erkundigt sich, wie es uns in Paraguay gefällt und wünscht uns eine gute Weiterreise. – Was es ausmacht, wenn man als Tourist nicht in Massen, sondern nur vereinzelt auftritt!
Andererseits erschwert das Ausbleiben von Touristen allerdings auch manchen Besuchswunsch. So lange wir in den von Reisenden rege frequentierten Andenländern unterwegs waren, war es nie ein Problem, an ein attraktives Ziel in der Umgebung zu gelangen – meist gab es verschiedene Touranbieter, man konnte das Programm und den Preis vergleichen und vielleicht sogar handeln. In der Nähe von Encarnación befinden sich drei Jesuitenreduktionen, die schon seit 1993 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen; doch es existiert keine Agentur, die eine Rundtour zu diesen Sehenswürdigkeiten anbietet.

Ohne eigenes Auto sind wir also auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen und fahren hinaus in den knapp 30 Kilometer nördlich liegenden Ort Trinidad. Während der Fahrt hätten wir uns mit Thermoskannen, Sonnenbrillen, Uhren, Handys, Radios, Powerbanks, Glückslosen, Sandwichs und Obstsalat eindecken können, wenn wir auf die Verkaufsangebote der fliegenden Händler eingegangen wären – es ist wieder wie in Ecuador oder Peru! Schließlich teilen wir dem Busbegleiter mit, wo wir raus wollen; der winkt uns zu sich und lässt uns an einer Seitenstraße aussteigen, die hinauf zu den Ruinen der ehemaligen Jesuitenmission La Santísima Trinidad de Paraná führt.

Es ist Dienstagvormittag gegen elf Uhr; das modern gestaltete Besucherzentrum ist schon von Weitem zu sehen, doch der Parkplatz davor ist öde und verlassen. Zwei Angestellte langweilen sich an der Kasse und sind sichtlich froh, dass mal wieder jemand kommt. Zuerst dürfen wir in einem Vorführraum einen kurzen Einführungsfilm ansehen – in deutscher Sprache! -, anschließend spazieren wir über das sehr weitläufige Gelände, auf dem sich die immer noch beeindruckenden Überreste zweier Kirchen, zahlreicher Wohngebäude und Werkstätten befinden, in denen im 18. Jahrhundert ein geschichtlich einmaliges sozio-kulturelles Experiment mit traurigem Ausgang stattfand.

Die Jesuiten, in der Zeit der Kirchenspaltung innerhalb der katholischen Kirche als reformorientierter Orden gegründet, kamen ab dem 17. Jahrhundert nach Südamerika – natürlich, um die Eingeborenen zu missionieren; doch ihr Ansatz ging weiter als der anderer Ordensgemeinschaften. Sie legten großen Wert auf Erziehung und Bildung und erkannten im Gegensatz zu den spanischen und portugiesischen Kolonialherren die Indigenen als gleichwertige Menschen an. Das führte im Laufe der Zeit immer wieder zu Konflikten mit den weltlichen Kolonisten und den staatlichen Autoritäten: Sie beuteten die Wilden rücksichtslos aus, während die Jesuiten ihnen in ihren Reduktionen Wohnung, Arbeit und Schutz boten.

Als die weltlichen Mächte mehrfach Jesuitenreduktionen überfallen, geplündert und ihre Bewohner versklavt hatten, ließen sich die Ordensmänner vom Papst die Erlaubnis erteilen, die Indigenen zu bewaffnen und für ihre eigene Verteidigung auszubilden. Gleichzeitig wurden die Reduktionen von dicken Mauern umgeben. Mit Ausnahme der Padres durften nun regulär keine Weißen mehr die Siedlungen betreten; die interne Verwaltung übergaben die Jesuiten den Einheimischen, wobei sie allerdings bestimmte Grundregeln festlegten, die in allen Reduktionen galten. Und diese beinhalteten zum Beispiel, dass es kein Geld und keinen privaten Besitz an Produktionsmitteln gab.

So unterschied sich das Leben in den jesuitischen Siedlungen im Laufe der Zeit vor allem in Paraguay grundlegend von der Gesellschaft außerhalb, sodass die Historiker im Rückblick oftmals von einem Jesuitenstaat sprechen. Der war den Kolonialmächten, kein Wunder, mehr und mehr ein gewaltiger Dorn im Auge. Die Konflikte häuften sich im Laufe des 18. Jahrhunderts; schließlich unterschrieb 1767 der spanische König Carlos III. einen Erlass, demzufolge die Jesuiten vollständig aus den Kolonien, insbesondere aus Paraguay, vertrieben wurden. Die Ordensleute fügten sich traurig in ihr Schicksal; die Indigenen wurden mit brutaler Gewalt aus den Reduktionen geholt, die Gebäude dabei meist nachhaltig zerstört – im Falle von Trinidad hatten sie nur 61 Jahre Bestand, denn hier war 1706 der Grundstein gelegt worden.

Eine zweite, ebenfalls zum Weltkulturerbe zählende Reduktion liegt nur gut zehn Kilometer von Trinidad entfernt – Jesús de Tavarangüe, kurz Jesús genannt. Die Eintrittskarte gilt auch für diese und noch für eine weitere, allerdings in einer anderen Richtung gelegene Ruine; bloß wie kommen wir dorthin? Wir fragen an der Kasse nach: Busse fahren nur spärlich, da müssten wir lange warten. Einfacher wäre es per Taxi – Kostenpunkt hin und zurück mit Warten zehn Euro. Das hört sich gut an; wir bitten also darum, ein Taxi zu rufen. „Nicht notwendig!“ kommt die Antwort – eine Studentin, die hier in ihrer freien Zeit offenbar ein wenig mithilft, steht schon parat und erklärt uns, dass sie uns nach Jesús kutschieren wird.

Also fahren wir mit der jungen Dame in den Nachbarort. Auch hier sind wir erst einmal die einzigen Besucher (später kommen dann tatsächlich noch ein paar andere); der Angestellte entwertet unsere Tickets, fragt, woher wir kommen und drückt uns dann stolz einen deutschsprachigen Prospekt in die Hand – leider nicht über die Ruinenstätte, sondern übers ganze Land. Egal, wenn schon mal Deutsche hier aufkreuzen…

Das Gelände von Jesús ist nicht so groß wie das in Trinidad, dafür begann die Besiedlungsgeschichte hier etwas früher, nämlich bereits 1685. Verhältnismäßig sehr gut erhalten ist hier das Kirchengebäude, das nach dem Vorbild der Hauptkirche des Ordens in Rom konzipiert wurde und eines der größten der damaligen Zeit geworden wäre – wenn es denn je fertiggestellt hätte werden können. Die Vertreibung der Jesuiten 1767 verhinderte dies.


Nach dem Besuch der Ruinen und des angeschlossenen Museums bringt uns unsere Fahrerin zurück nach Trinidad an die Haltestelle, wo wir auf den nächsten Bus nach Encarnación warten. Zwar zum Glück im Schatten, aber doch im Stehen… – zu unbequem, meint offensichtlich ein Polizist, dessen Dienststelle sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindet. Zuerst uns, dann auch noch einem jungen Mädchen bringt er drei Stühle, damit wir uns nicht die Beine in den Bauch stehen. Die Polizei, dein Freund und Helfer – irgendwo in Paraguay!