Asunción.
Busse von Encarnación in Paraguays Hauptstadt Asunción fahren häufig. Es ist daher nicht notwendig, schon im Voraus Tickets zu kaufen, denken wir – und werden in dieser Auffassung schneller bestätigt, als wir gedacht hätten: Wir steigen gerade am Busterminal aus dem Taxi und haben unsere Rucksäcke noch nicht einmal auf den Schultern, schon steht ein Verkäufer vor uns und fragt uns nach unserem Ziel. Für zehn Euro treten wir vormittags um kurz nach zehn Uhr die angeblich fünfstündige Fahrt Richtung Nordwesten an, die tatsächlich gut sechseinhalb Stunden dauert; aber dass man bei den Zeitangaben großzügig nach unten abrundet, kennen wir ja mittlerweile.
Die Landschaft, die an uns vorbeifliegt, ist zunächst sehr flach, ehe es später hügeliger wird. Überraschend ist für uns, wie grün es überall trotz der hohen Temperaturen ist. Der Busbahnhof in Asunción ist ziemlich weit außerhalb des Stadtzentrums, schon recht alt und wahrlich kein Schmuckstück. Also schnell ins Taxi, das uns durch starken Feierabendverkehr zu unserem Hotel Palmas del Sol bringt. Obwohl an einer viel befahrenen Straße gelegen, geht es hier ruhig und entspannt zu, da sich die Zimmer am hinteren Ende von zwei Innenhöfen (sogar mit Pool) befinden.
Und am Frühstücksbüffet haben wir wieder einmal Anlass zum Staunen: nicht nur über die sehr reichliche Auswahl, sondern vor allem über die Art des Angebots – hier gibt es zum ersten Mal auf unserer gesamten Reise dunkles Mischbrot und Semmeln wie vom Bäcker daheim, Käse- und Marmorkuchen stehen bereit und auch das Wurstangebot schmeckt sehr vertraut. Noch dazu sind die Kärtchen auf Spanisch, Englisch und Deutsch beschriftet… Als wir später einen Kalender entdecken, auf dem über dem Monat März ein Bild der Nürnberger Altstadt zu erkennen ist, verstärkt sich die Vermutung, dass die Besitzer dieses Hotels Deutsche sein müssen. Eine Nachfrage beim Rezeptionisten bestätigt das: Ja, und es gibt in Asunción auch eine deutsche Bäckerei, von der das Hotel die Backwaren bezieht.
Gut gestärkt machen wir uns auf zur Erkundung der nur von relativ wenigen Reisenden besuchten paraguayischen Hauptstadt. Sie wurde bereits 1537 unter der griffigen Bezeichnung La Muy Noble y Leal Ciudad de Nuestra Señora Santa Maria de la Asunción (Die sehr vornehme und königstreue Stadt unserer lieben Frau Mariä Himmelfahrt) gegründet und ist eine der ältesten spanischen Siedlungen auf dem südamerikanischen Kontinent überhaupt, was ihr den Beinamen Madre de Ciudades (Mutter der Städte) eingebracht hat. Von hier aus wurden nämlich viele weitere Stadtgründungen, auch die von Buenos Aires, in Angriff genommen.

Ihre fast fünfhundertjährige Geschichte sieht man Asunción heutzutage leider kaum mehr an. Das nach typisch südamerikanischem Muster schachbrettartig angelegte Stadtzentrum ist ein architektonischer Mischmasch aus einigen wenigen erhaltenen kolonialen Gebäuden, relativ zahlreichen, kreuz und quer über die Stadt verstreuten Häusern aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert mit hübschen Verzierungen in unterschiedlich gutem Erhaltungszustand und dazwischen sehr vielen unansehnlichen Bauwerken moderneren Datums.

In den meist ziemlich engen Straßen herrscht tagsüber starker Verkehr, eine Fußgängerzone gibt es nicht, sodass nur ein paar Parks etwas Luft und Grün in die dichte innerstädtische Bebauung bringen. Recht schön und gepflegt wirkt die nicht weit von unserem Hotel entfernte Plaza Uruguaya, die ihren Namen wohl dem uruguayischen Unabhängigkeitskämpfer Artigas verdankt. Er floh später ins Exil nach Paraguay und bekam hier auch ein Denkmal gesetzt.

Eine Längsseite der Plaza wird vom Museo del Ferrocarril eingenommen – dem ehemaligen Hauptbahnhof der Stadt. 1864 errichtet, verband er Asunción mit Encarnación; die erste Eisenbahnlinie in ganz Südamerika! Nachdem die Bahn als Verkehrsträger, wie überall auf dem Kontinent, an Bedeutung verlor, wurde er 1999 stillgelegt, aber als Museum schön restauriert.


Wir laufen einige Häuserblocks in Richtung Nordwesten und kommen an die nächste Plaza – sie ist durch zwei sie querende Straßen in vier Teile gegliedert, die offiziell jeweils einen eigenen Namen besitzen. Am bekanntesten ist sie aber wohl doch unter der traditionellen Bezeichnung Plaza de los Héroes; denn mit dem Panteón Nacional de los Héroes y Oratorio Católico de la Virgen de Asunción, einem ab 1863 zu Ehren der städtischen Schutzpatronin errichteten Gebäude nach dem Vorbild des Invalidendoms in Paris, findet man hier eine der bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Stadt. In ihm sind heute die Überreste paraguayischer Kriegshelden bestattet. Eine Besichtigung ist leider nicht möglich; der Bau wird derzeit einer gründlichen Sanierung unterzogen und ist eingerüstet.

Entlang der Calle Palma, der Haupteinkaufsstraße, passieren wir einige noble Stadtpaläste. Einer davon beherbergt mittlerweile das Außenministerium – überhaupt fällt uns auf, dass viele der schönsten und gepflegtesten Gebäude Asuncións von Behörden und Ministerien genutzt werden.


Ansonsten gibt es viele Straßenhändler, die oftmals durchaus beachtenswertes Kunsthandwerk anbieten – Ñandutí-Stoffe, von den Guaraní-Frauen gefertigte Spitzendeckchen; oder mit Leder ummantelte Thermoskannen und Teebecher.

Etwas mehr über die Geschichte Paraguays erfahren wir, als wir die Casa de la Independencia besichtigen. Das 1772 von der Familie Martínez Sáenz aus Adobe-Ziegeln errichtete Wohnhaus erlangte nationale Bedeutung, als am 14. Mai 1811 Unabhängigkeitskämpfer von hier zum nahegelegenen Amtssitz des spanischen Gouverneurs ritten und ihn unter Androhung von Waffengewalt letzten Endes ohne Blutvergießen seines Amtes enthoben – dieses Ereignis markiert den Beginn der Eigenstaatlichkeit Paraguays.

Das seit 1965 als Museum eingerichtete Gebäude zeigt in den ehemaligen Wohnräumen der Familie neben Dokumenten rund um die Unabhängigkeit des Landes zahlreiche Wohn- und Kultgegenstände, die der Epoche um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstammen.


Als wir der stickigen Hitze der Innenstadt kurz entfliehen, um ein wenig an der Costanera entlangzulaufen, die sich dem die Stadt umfließenden Río Paraguay entlangzieht, gerät auf der Stadtseite bald ein wirklich sehr prächtiges Bauwerk in unser Blickfeld: der Palacio de los López, zwischen 1857 und 1867 von der schwerreichen Familie gleichen Namens errichtet, aber schon bald danach in einem Krieg schwer beschädigt und später vom Staat grundlegend restauriert.


Seit 1949 dient er nun dem paraguayischen Staatspräsidenten und der Regierung als Amtssitz. Der derzeitige Amtsinhaber Horacio Cartes, seit 2013 am Ruder, empfängt heute offensichtlich hohen Besuch: Der Palast ist auf allen Seiten weiträumig mit Absperrgittern umgeben, zahlreiche Polizisten patroullieren auf dem Gelände, und unter einem Gartenpavillon werden gerade Stühle für eine Veranstaltung aufgebaut.

Als wir am nahe gelegenen Congreso Nacional vorbeikommen, verstärkt sich dieser Eindruck noch: Der Bau, eine Kombination aus einem über 400 Jahre alten, auf die Jesuiten zurückgehenden Gebäude und einem postmodern wirkenden neuen Teil, wird ebenfalls von einer großen Zahl von Sicherheitskräften geschützt.

Und auch auf der sich dem Parlamentsgebäude anschließenden Plaza de Armas sind Absperrungen angebracht und Bereitschaftspolizei mit Schutzschildern ist unterwegs. Wir – als Touristen unschwer erkennbar – dürfen problemlos unsere Fotos machen, auch vom Cabildo (dem früheren Rathaus) und der auf das 17. Jahrhundert zurückgehenden, leider geschlossenen Catedral Metropolitana. Doch als ein Einheimischer mit seinem Motorroller vor dem Präsidentenpalast stehenbleibt, wird er vom nächsten Wachmann sofort zum Weiterfahren ermahnt.


Was ist hier heute los? Die Stadt wirkt im Ausnahmezustand… Wir informieren uns und erfahren: Die Banco Interamericano de Desarrollo (BID, auf Deutsch: Interamerikanische Entwicklungsbank) hält hier in Asunción vom 30. März – 2. April 2017 ihre Jahrestagung ab. Neben sämtlichen lateinamerikanischen Staaten, in denen diese Bank Wirtschaftsprojekte finanziert, sind 22 weitere Länder als Mitglieder an der Finanzierung dieser Einrichtung beteiligt, darunter auch die USA, China, Japan, die Bundesrepublik Deutschland und zahlreiche weitere europäische Staaten. So eine internationale Großveranstaltung ist für ein kleines Land wie Paraguay wahrlich nicht alltäglich…

…und alles andere als unumstritten. Ähnlich wie die Weltbank huldigt nämlich auch die BID dem neoliberalen Wirtschaftsmodell, das auch von der derzeitigen paraguayischen Regierung verfolgt wird. Dementsprechend gibt es am Abend Demonstrationen linksgerichteter Gruppierungen, vor denen man die hochrangigen Gäste aus der ganzen Welt so gut wie möglich abschirmen möchte. Vielleicht auch, um von lautstarken Protesten abzulenken, aber sicher in erster Linie zur Begrüßung der internationalen Regierungsvertreter gibt es nach Einbruch der Dunkelheit ein gewaltiges Feuerwerk, bei dem man es mindestens eineinhalb Stunden lang richtig krachen lässt. Da kommt man gerade bei der Versammlung einer Bank, die zur Entwicklungshilfe gedacht ist, schon ins Grübeln ob der damit verbundenen Kosten…
Die Sozialfürsorge in Paraguay scheint allem Anschein nach generell nicht gerade auf besonders hohem Niveau. Ein Beispiel dafür zeigt sich uns gar nicht weit von unserem Hotel entfernt vor einem Regierungsgebäude: Dort hat ein indigenes Volk unter Planen ein Feldlager errichtet und Transparente aufgespannt, auf denen die Herrschenden zur Erfüllung von offenbar schon lange gegebenen Versprechungen erinnert werden.

Obwohl die hohen Temperaturen uns jeweils schon am frühen Nachmittag wieder zurück in unser kühles Hotelzimmer treiben, haben wir nach zwei Besuchstagen wirklich alles gesehen, was die Innenstadt von Asunción zu bieten hat. Und zu Ausflügen in die Vororte, etwa auf einen Aussichtshügel, mit den altersschwachen, dafür umso bunteren Bussen fehlt uns bei der Hitze die Energie…
So wird die nahe gelegene, stilvoll altmodische Bar San Roque ganz in der Nähe unseres Hotels eine schöne Adresse für unser Abendessen. Die Preise sind für unsere Verhältnisse moderat, die Ober servieren im schwarzen Anzug, trotzdem ist es hier nicht übertrieben nobel. Und als einer der Kellner erfährt, dass wir aus Deutschland kommen, hat er für uns nach der Mahlzeit eine besondere Überraschung parat: Heute, erklärt er uns, gibt es als promoción für alle Essensgäste ein Bier umsonst – und zwar ein Helles nach Münchner Art, stilecht in Halbliter-Tonkrügen serviert. Die Aufschrift sorgt mal wieder für ungläubiges Staunen: Deutscher Turn- und Sportverein ist da aufgedruckt und das Wort Oktoberfest. Im Club aleman von Asunción wird das schon seit langem gefeiert. Aber warum gibt es hier in der Bar diese Krüge? Der Gründer des Lokals, den der Ober als Don Francisco bezeichnet und dessen Sohn heute Geschäftsführer ist, war deutscher Abstammung und hat die Oktoberfestkrüge gesammelt.

Und da wir aus Deutschland kommen, werden wir auch noch auf ein Bild des ehemaligen Chefs hingewiesen, das gleich neben der Eingangstür an der Wand hängt. Der Kellner erzählt uns irgendetwas von Kaiser, was wir erst einmal nicht so ganz verstehen. Doch als wir das Foto schließlich betrachten, ist schnell alles klar: Don Francisco ist hier doch tatsächlich mit Kaiser Franz Beckenbauer zu sehen, offenbar im Clubhaus des Deutschen Turn- und Sportvereins…! Und dass Ex-Bayern-Star Roque Santa Cruz, der seine aktive Karriere derzeit bei seinem Heimatverein Olimpia Asunción ausklingen lässt, öfter hier zum Essen kommt, wird uns ganz stolz gleich auch noch mitgeteilt.

Aktuelle Berichterstattung
Heute Abend gegen sieben Uhr, wir wollen gerade wieder zum Essen gehen, werden am Fernseher der Rezeption Bilder eingeblendet: Ein brennendes Gebäude wird gezeigt, irgendwie kommt uns das bekannt vor… tatsächlich, das ist der Congreso Nacional, das Parlamentsgebäude! Was geht denn hier vor? Wir fragen bei den Hotelmitarbeitern nach. Hat es mit der Tagung der Bank zu tun? Nein, wird uns erklärt, das hier hat ganz andere Gründe. Laut der Verfassung des Landes ist eine Wiederwahl des Präsidenten nicht zulässig. Doch Horacio Cartes hat im Parlament nun mittels einer nicht vom Parlamentspräsidenten in einem Büroraum einberufenen Sitzung eine Verfassungsänderung durchgesetzt, die genau das erlauben soll. Und das hat tausende von Demonstranten auf den Plan gerufen, die mittlerweile ins Parlament eingedrungen sind und dort Feuer gelegt haben. Das riesige Polizeiaufgebot, das wir gestern schon gesehen haben, hatte also wohl noch einen anderen Grund…
Der Herr an der Rezeption fragt uns, wo wir hin wollen. „Nur in die Bar um die Ecke.“ – „Okay, da seid ihr sicher“, erwidert er. Der Schauplatz der Ausschreitungen befindet sich nur zehn Straßenzüge von uns entfernt. So hören wir auf dem Weg zum Restaurant schon die Schüsse. Angespannt verfolgen wir gemeinsam mit den Hotelgästen, den Kellnern und Köchen die Entwicklungen am Fernseher. Mittlerweile brennt das ganze Parlament. Demonstranten haben Akten aus dem Fenster geworfen, Festplatten und Computer zerstört. Das Essen schmeckt uns heute überhaupt nicht, und wir schauen, dass wir so schnell wie möglich wieder ins Hotel kommen. Doch draußen hört man um zehn Uhr immer noch Schüsse. An Schlaf ist heute wohl kaum zu denken. Nach Auskunft der Leute hier hat es noch nie so etwas gegeben.
Morgen in aller Frühe werden wir Paraguay eh verlassen. Die Entwicklungen hier werden wir allerdings mit großem Interesse weiterverfolgen!