San Cristóbal de las Casas.

Kämen wir direkt aus Europa nach Mexiko, würden wir sagen: „Alles ganz normal, so haben wir uns das vorgestellt.“ Doch nach diversen Nachtbusfahrten in Südamerika sind wir verwöhnt, was den Komfort angeht und schauen deswegen erst einmal wenig begeistert drein, als wir feststellen, dass wir die Nacht von Donnerstag auf Freitag in einem ganz normalen Reisebus zubringen werden – fast 13 Stunden soll die Fahrt von Puerto Escondido nach San Cristóbal de las Casas dauern. Doch alles halb so wild: Um halb neun Uhr starten wir in die Nacht, kurz nach elf Uhr sind nach zwei Zwischenstopps alle Mitreisenden an Bord, und nachdem wenig später der zweite Film zu Ende gegangen ist, schlafen wir bald ein – und stellen am nächsten Morgen erstaunt fest, dass wir eine Stunde früher als angekündigt in San Cristóbal ankommen.

San Cristóbal – Touristenmagnet im Bergland von Chiapas

Der Taxifahrer kennt zwar den Namen unseres Hostels nicht, die Adresse ist ihm aber schon geläufig – und so stehen wir wenig später in einer Seitenstraße der Altstadt vor einem unscheinbaren Privathaus. Kein Schild weist auf eine Unterkunft hin, nirgends ist eine Klingel zu finden; und wir haben angegeben, dass wir erst in einer Stunde anreisen. Sind wir hier überhaupt richtig? Das Nachbarhaus ist als Hostel klar erkennbar, ist es vielleicht das? Nein, aber nach mindestens zehnmaligem Klopfen kommt tatsächlich die Besitzerin an die Tür und lässt uns herein – wir sind im Hostal Amatzolli und dürfen gleich unser Zimmer beziehen.

Für die Erkundung von San Cristóbal nehmen wir uns mehrere Tage Zeit. Das ist auch gut so, denn die etwa 160.000 Einwohner zählende, auf 2.100 Metern in der Sierra Madre de Chiapas liegende Stadt mit sehr angenehmen Tagestemperaturen knapp über 20 Grad ist gespickt mit sehenswerten Bauwerken aus der Kolonialzeit und bietet in seinen engen, gepflasterten Straßen zudem sehr viel Atmosphäre.

In alte Zeiten fühlt man sich in den Gassen der Stadt zurückversetzt

Die schon 1528 gegründete Stadt, deren Beiname de las Casas auf den gleichnamigen Bischof zurückgeht, der sich sehr für die Rechte der einheimischen Bevölkerung einsetzte, baut sich rund um die Plaza 31 de Marzo, nach üblichem mexikanischem Brauch auch als Zócalo bezeichnet, auf. Hier befindet sich hinter der langgestreckten, von Säulen gegliederten Fassade des ehemaligen Rathauses das städtische Museo de San Cristóbal, hier steht die eindrucksvolle Kathedrale, an der von 1528 bis 1721 gebaut wurde, hier und auf der vorgelagerten Plaza de la Paz haben auch zahlreiche fliegende Händler ihre Waren aufgebaut und werben um Kunden.

Zentrum der Stadt: der Zócalo
Schön gestalteter Platz vor dem Museo de San Cristóbal
Immer viel los vor der Kathedrale…
…das Warenangebot ist reichlich

Nach drei Richtungen ziehen sich vom Zócalo aus Fußgängerzonen, durch die sich gerade am Wochenende und abends die Menschenmassen nur so drängen. Touristen aus aller Welt zieht es in den wirklich hübschen Ort; dementsprechend ist auch die Auswahl an Restaurants groß, und das Angebot beschränkt sich nicht nur auf mexikanische Küche, sondern ist international. Im Süden der Altstadt befindet sich mit dem Arco Torre del Carmen sogar ein historisches Stadttor – so etwas ist auf amerikanischem Boden wahrhaftig eine Seltenheit.

Viel Leben in der Fußgängerzone
San Cristóbals Stadttor Arco Torre del Carmen

Die längste verkehrsberuhigte Straße, die Real de Guadalupe, führt stetig leicht bergauf zu einem Hügel, auf dem die anmutige kleine Iglesia de Guadalupe thront. Dasselbe Bild wie hier, im Osten der Innenstadt, bietet sich auch auf der entgegengesetzten Seite: Auch auf dem Cerrito de San Cristóbal befindet sich, über zahlreiche Treppen erreichbar, ein Kirchlein.

Die Iglesia de Guadalupe
…und die Iglesia de San Cristóbal überragen die Stadt

Die prächtigste Kirche der Stadt ist gar nicht weit von unserem Hostel entfernt – sie versteckt sich jedoch hinter zahlreichen Plastikplanen, die einen großen Kunsthandwerksmarkt markieren, auf dem die indigene Bevölkerung des Umlands ihre Textilien, Lederwaren usw. anbietet. Die aus dem 17. Jahrhundert stammende Iglesia de Santo Domingo besticht außen durch eine unglaublich reich verzierte Fassade und im Inneren mit ihren üppig mit Blattgold dekorierten Wänden.

Die Iglesia de Santo Domingo beeindruckt mit ihrer Fassade…
…und ihrer reichen Innenausstattung

Dem Status als kulturelles Zentrum von Mexikos südlichster Provinz Chiapas wird San Cristóbal de las Casas unter anderem dadurch gerecht, dass es in der Stadt zahlreiche Museen gibt. Das renommierteste von ihnen ist das Na Bolom: ursprünglich ein katholisches Seminargebäude, das später von dem dänischen Archäologen Frans Blom und seiner schweizerischen Ehefrau, der Anthropologin Gertrude Duby-Blom gekauft wurde und nach ihrem Tod nun als sehr gut und verständlich gestaltetes Museum weitergeführt wird. Der Name, der in der lokalen Tzotzil-Sprache Haus des Jaguars bedeutet, spielt gleichzeitig mit dem Familiennamen Blom ihrer ehemaligen Bewohner.

Wunderschöner Innenhof im Na Bolom

Die Ausstellungsräume rufen die verdienstvollen Arbeiten der beiden in Erinnerung und vermitteln zugleich eine genauere Vorstellung von den Lebensumständen der indigenen Bevölkerung in der Umgebung. Während Frans Blom (1893 – 1963) eine Reihe von Maya-Ruinen im dichten Dschungel von Mexiko und dem benachbarten Guatemala entdeckte, erforschte Gertrude Duby (1901 – 1993) die Lebensweise des noch ganz traditionell lebenden Volkes der Lacandonen und machte sich später einen Namen als engagierte Umweltschützerin, die zunehmend frustriert gegen die fortschreitende Abholzung der Urwälder ankämpfte. „Wenn der Mensch diesen Planeten weiterhin so misshandelt wie er es jetzt tut, dann werden die Folgen in naher Zukunft weit schrecklicher sein als jede Verwüstung, die eine Atombombe anrichten kann“, prophezeite sie schon 1983 – Worte, deren bittere Wahrheit bis heute nichts an Aktualität eingebüßt hat.

Ausstellungsraum über die Lacandonen
Die Privatbibliothek der Bloms

Dass die Abholzung der Regenwälder hier auch dazu dienen sollte, anderen indigenen Volksstämmen neuen Siedlungs- und Wirtschaftsraum zu geben, entschuldigt das Vorgehen der Regierungsstellen nicht wirklich – auch wenn diese Ureinwohner ebenfalls in vielfältiger Weise gegenüber der herrschenden Oberschicht strukturell benachteiligt sind. Beispielhaft dafür sind die zahlreichen kleinen Kaffeebauern zu nennen, die jeweils nur wenige Hektar Land besitzen, meist ohne Maschinen auskommen müssen und von den traditionellen Großhändlern nur lächerlich geringe Beträge für ihre Knochenarbeit gezahlt bekommen. Ihre Situation wird im Café Museo Café, das von einer Kleinbauern-Kooperative betrieben wird, anschaulich dargestellt; den sehr gut schmeckenden Kaffee gibt es dann auch gleich zu trinken. In einer Ausstellungsvitrine sehen wir Verpackungen mit deutscher Aufschrift – fair gehandelten Kaffee aus Chiapas gibt es auch zuhause in Deutschland zu kaufen.

Ein großformatiges Wandbild zeigt den Alltag der Kaffeebauern

Das ist beileibe nicht das erste Mal, dass wir auf unserer Reise mit den krassen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten konfrontiert werden, die gerade in vielen lateinamerikanischen Gesellschaften nach wie vor an der Tagesordnung sind. Chiapas ist jedoch eine Region, in der diese Widersprüche wie unter einem Brennglas deutlich werden. Die Zahl der Straßenhändler und Bettler (sehr viele Kinder sind darunter), die in San Cristóbal unterwegs ist, ist enorm hoch – als wir abends in einem Straßenlokal sitzen, zählen wir mal mit: In einer Viertelstunde kamen 16 Leute vorbei, die uns etwas verkaufen wollten.

Unmöglich, auch nur aus Mitleid so viele Decken, Schals, Armbänder, Gürtel, Süßigkeiten, Salben usw. zu kaufen; nicht zielführend auch, das reine Betteln zu unterstützen, zumal es hier in der Stadt reichlich Jobangebote gibt, wie wir vor allem an Restaurants und Hotels, wo überall Bedienungen oder Küchenhilfen gesucht werden, lesen können. Da unterstützen wir lieber eine seriös wirkende Sammelaktion von Lehrern einer kleinen privat betriebenen Waisenschule, die Geld für die Versorgung ihrer Schützlinge benötigen.

Doch dass besonders die Indigenen auf den Dörfern nach wie vor äußerst ärmlich leben, ist unbezweifelbar – die linksgerichtete Zapatistenbewegung hat nicht zufällig in Chiapas ihre Heimat und auch in San Cristóbal, das Anfang 1994 einige Tage von den Rebellen besetzt war, zahlreiche Unterstützer. Zum Beispiel in einem Restaurant, das offen für die revolutionäre Bewegung wirbt und auf der Speisekarte darauf hinweist, dass die Zutaten nach Möglichkeit von den zapatistischen Bauern der Umgebung zu einem gerechten Preis erworben werden. Wohl einer der besten Wege, das in die Stadt fließende Geld dorthin zu leiten, wo es besonders notwendig gebraucht wird! Und was Fair Trade und Öko-Produkte angeht: Eine Konsequenz unserer Lateinamerika-Reise wird, darüber sind wir uns schon länger klar, ganz sicher sein, dass wir darauf künftig wesentlich mehr achten werden, als wir das bislang getan haben.

Tolle Fassaden in San Cristóbal – doch viele Menschen hier leben in Armut