Panajachel.

San Cristóbal liegt ganz im Süden von Mexiko, das Nachbarland Guatemala ist von hier nicht allzu weit entfernt. Schon einige Reisebekannte haben viel Positives von dort berichtet, sodass wir über einen Abstecher nachdenken und uns schließlich für einen nicht ganz billigen Fünftagesausflug ins guatemaltekische Hochland entscheiden, der von einer der Reiseagenturen in der Stadt angeboten wird. Der beginnt am Mittwochmorgen um sieben Uhr: Wir werden von unserem Hostal Amatzolli abgeholt und mit einem Colectivo an den Stadtrand gebracht. Dort steigen wir in einen anderen Kleinbus um, der Richtung Grenze fährt. Allerdings legt er nach noch nicht einmal zwei Stunden Fahrzeit gleich eine einstündige Pause an einem Restaurant ein. Wir wundern uns: Die Strecke ist doch noch weit, warum das denn? Die Frage beantwortet sich erst an der Grenze. Zunächst müssen wir zum mexikanischen Ausreisebüro und werden dort pro Nase um 500 Pesos (umgerechnet 25 Euro) Ausreisesteuer erleichtert. Ganz schön happig, aber angeblich eine ganz offizielle Gebühr, wenn man länger als sieben Tage im Land war! Im staubigen, heißen und chaotischen La Mesilla, dem guatemaltekischen Grenzort angekommen, schmeißt uns unser Fahrer vor dem Grenzübergang raus und sagt uns, wohin wir laufen müssen, um den Einreisestempel zu erhalten. Und danach… dürfen wir die Uhr um eine Stunde zurückstellen und warten.

Am Grenzübergang La Mesilla…
…Warten auf die Weiterfahrt

Warten, bis die guatemaltekischen Kleinbusse von der Gegenrichtung kommen – sie sind heute in aller Herrgottsfrühe aus verschiedenen Orten des Landes losgefahren, haben Touristen, die in die Gegenrichtung unterwegs sind, hierhergebracht und nehmen nun uns mit zur Weiterreise. Deswegen hatte es also der mexikanische Fahrer überhaupt nicht eilig! Das Gepäck wird auf dem Dach verstaut, und los geht der Höllenritt. Unzählige Bodenwellen, starker Schwerlastverkehr und ein hektischer Fahrer, der alles überholt, was unterwegs ist, einschließlich langer Staus an Baustellen, sorgen dafür, dass die nächsten dreieinhalb Stunden in dem engen Colectivo alles andere als eine Spaßfahrt werden. An einer Tankstelle in San Francisco El Alto, einem lauten und hektischen Verkehrsknoten an der Panamericana, ist die nächste Umsteigestation – wir sind unseren Chaospiloten los und fahren mit einem wesentlich umsichtigeren Chauffeur die letzten 20 Minuten nach Quetzaltenango, unseren ersten Etappenort in Guatemala.

Chaotischer Verkehr in San Francisco El Alto

Nur, wo werden wir dort übernachten? Die Agentur in San Cristóbal hat uns zwar ein Programm ausgedruckt. Hotelnamen suchen wir auf diesem Blatt allerdings vergeblich.  Und der Fahrer weiß es auch nicht; er meint, eigentlich sollten wir es doch wissen… Wenigstens hat man uns die Nummer des guatemaltekischen Partnerbüros gegeben. Nach zwei Versuchen erreicht der Fahrer den Verantwortlichen endlich und reicht uns das Handy weiter. Doch alles verstehen wir am Telefon dann doch nicht – zum Glück hilft uns eine Englisch sprechende Mexikanerin, die zusammen mit ihrem argentinischen Partner mit uns im Bus ist. So landen wir letztlich im Hotel Los Olivos mitten im Zentrum von Xela (so lautet der Name der Stadt in Kurzform in der Maya-Sprache).

Parque a Centro America im Herzen von Quetzaltenango

Die Sehenswürdigkeiten der Stadt sind schnell abgeklappert – sie konzentrieren sich auf den Parque a Centro America, um den herum sich etwa die 1900 entstandene Ladenpassage Pasaje Enríquez oder die Kathedrale gruppieren, die bei einem Erdbeben 1976 zerstört und danach neu wieder aufgebaut wurde. Nur die alte Fassade aus dem 17. Jahrhundert zeugt noch vom ursprünglichen Bauwerk.

Die Pasaje Enríquez von außen…
…und von innen
Die Rotunde ist dem guatemaltekischen Komponisten Rafael Álvarez Ovalle gewidmet

In den Arkaden des Rathauses erklingen, als wir vorbeikommen, gerade schöne Melodien. Wir bleiben stehen und sehen die Stadtkapelle von Quetzaltenango in voller Aktion: Gekonnt spielen die Musiker ihre traditionellen Lieder auf dem Nationalinstrument Guatemalas, der Marimba.

Marimbaklänge erschallen vor dem Rathaus
Zum Abschluss unseres Stadtrundgangs lassen wir es uns in einem typisch guatemaltekischen Restaurant schmecken

Am nächsten Morgen warten wir etwas unruhig darauf, ob wir von jemandem zur Tour abgeholt werden. Auf dem Plan steht 7.30 Uhr; es dauert aber bis kurz nach acht Uhr, ehe tatsächlich jemand kommt und uns mitnimmt. Und dieser Jemand entpuppt sich als ein äußerst freundlicher, vielseitig gebildeter Fremdenführer, der heute nur uns beide zu betreuen hat und mit uns eine der interessantesten Touren unternimmt, die wir während der bisherigen Reise erlebt haben. Zunächst erzählt er uns einiges über die Geschichte von Quetzaltenango. Der Name bedeutet auf Deutsch Ort des Quetzals. Die als Metropolregion gut 700.000 Einwohner zählende zweitgrößte Stadt des Landes, auf über 2.200 Metern in der Sierra Madre gelegen, war zwischen 1838 und 1840 zwei Jahre lang Hauptstadt des Staates Los Altos und war damit der sechste Staat der damaligen zentralamerikanischen Föderation, zu der neben Guatemala noch Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica zählten. Auslöser war die Machtübernahme des extrem konservativen und skrupellosen Generals José Rafael Carrera Turcios, die zur Abspaltung der Hochlandregion um Quetzaltenango führte. Doch schon zwei Jahre später gelang Carrera die Einnahme des Separatistenstaates. Deren Anführer wurden getötet, und die kurze Hauptstadtphase Quetzaltenangos war vorbei.

Nur die Fassade blieb von der alten Kathedrale

Dann fahren wir hinaus in die nur wenige Kilometer außerhalb Xelas befindliche Kleinstadt Almolonga. In ihr ist zum einen die auf das Jahr 1608 zurückgehende Iglesia de San Pedro mit ihrer reich geschmückten Fassade und ihren vielen Heiligenstatuen im Kircheninneren bemerkenswert.

Almolongas Iglesia de San Pedro
…mit vielen Heiligenschreinen an den Seitenwänden…
…und einem wertvollen alten Stuhl

Hauptattraktion des 17.000 Einwohner zählenden Ortes ist aber sein bunter Bauernmarkt. Obwohl der Donnerstag keiner der Hauptmarkttage ist, laufen wir über einen von Ständen mit den verschiedensten Obst-, Gemüse- und Gewürzsorten nur so übersäten Marktplatz – ein wahres Fest für Augen und Nase, denn es duftet hier in den verschiedensten Geschmacksnoten. Die Ware kommt nämlich ganz frisch vom Feld und wird direkt vermarktet! Was uns außerdem auffällt: die Freundlichkeit und Herzlichkeit der Leute. Überall hört man ein fröhliches „Buenos Dias“, niemand ist aufdringlich und möchte uns irgendetwas andrehen. Eine sehr ursprüngliche Atmosphäre!

Buntes Markttreiben – in Guatemala leben die kleinsten Menschen der Welt…
…aber sie haben die größten Karotten!
Nur die Frauen tragen ihre traditionellen Trachten noch täglich
Verschiedenste Chilisorten…
…hier Jalapeños…
…auch in getrockneter Form zu haben!
Bohnen sind ein Grundnahrungsmittel
Für Restaurants gibt es schon geschnittenes Gemüse zu kaufen
Die Handtasche wird zur Kopftasche – alles wird von den Frauen auf dem Kopf getragen

Die Felder befinden sich gleich außerhalb des Ortes. Eigentlich ist die gesamte, von allen Seiten von Bergen umrahmte Umgebung ein einziger großer Gemüsegarten; jede Familie besitzt ein bisschen Land und bearbeitet das in mühsamer, täglicher Handarbeit. Hier im Hochtal gibt es jederzeit genügend Wasser, sodass mehrere Ernten im Jahr möglich sind. Der fruchtbare Vulkanboden tut sein Übriges dazu; die Karotten beispielsweise, die hier gedeihen, haben Ausmaße, von denen ein mitteleuropäischer Kleingärtner nur träumen kann! Allerdings sehen wir auch, dass die Campesinos nicht gerade umweltschonend zu Werke gehen, sondern durchaus Spritzmittel einsetzen. Auf dem lokalen Markt wären teurere Öko-Produkte nicht verkaufbar, erklärt uns unser Guide…

Das Tal rund um Almolonga…
…ist ein einziger großer Gemüsegarten
Die ganze Familie arbeitet fleißig mit
Aber auch die Giftspitze kommt zum Einsatz…

Nun geht es weiter in den einigen Kilometer entfernten Nachbarort Zunil, der etwa 11.000 Einwohner zählt. Auch hier besichtigen wir zunächst die Iglesia Santa Catalina, deren Fassade nach ihrer Renovierung in leuchtendem Gelb erstrahlt – zuvor war sie weiß. Acht Nischen in den Seitenwänden der Kirche beherbergen Heiligenstatuen, die jeweils einer Bruderschaft des Ortes gehören, von der sie gepflegt werden. Die Statuen wechseln jedes Jahr ihren Platz.

Zunils frisch renovierte Iglesia Santa Catalina
Blick aus der Kirche mit Vulkan im Hintergrund

Die Cofradia de San Simón allerdings hat ihren Heiligen nicht in der Kirche stehen, sondern an einem ganz anderen Ort. An einem unscheinbaren Privathaus am Stadtrand werden wir aus dem Fahrzeug gebeten und betreten das Gebäude über die auf der rückwärtigen Seite befindliche Tür.

Kein normales Privathaus, sondern Sitz der Cofradia de San Simón

Wir können kaum glauben, was wir dort zu sehen bekommen: An vier Tischen, die mit verschiedenfarbigen Decken gekennzeichnet sind, sitzen ernst dreinblickende ältere Herren mit Hut – Schamanen, wie uns unser Guide erklärt. Offensichtlich weist jede Farbe auf ein spezifisches Fachgebiet hin, für die der jeweilige Maya-Heiler zuständig ist. Die Beratung kann direkt vor Ort, auch mittels Tarot-Karten, erfolgen, genauso sind aber Anrufe übers Handy möglich – die indigene Bevölkerung nimmt die Dienste der weisen Männer offensichtlich häufig in Anspruch.

Eine Cofradia von innen
Die Schamanen warten auf Kundschaft

Doch die Schamanen alleine reichen zur Bewältigung der vielen Probleme nicht aus. Ob es um Arbeit, Gesundheit, Liebe oder Streit mit den bösen Nachbarn geht, der wichtigste Helfer in der Not ist im Volksglauben San Simón, der allerdings unter dem Namen Maximón (gesprochen: Maschimon) noch wesentlich geläufiger ist. Ein äußerst seltsamer Heiliger: In ihm mischt sich die alte Maya-Gottheit Maam mit biblischen Figuren wie Simon Magus und Judas Ischariot, er gilt als Mittler zwischen den Mächten des Himmels und der Unterwelt und ist demzufolge eine Figur, die sowohl mit weißer als auch mit schwarzer Magie in Verbindung gebracht wird. Kein Wunder, dass die katholische Kirche für  Maximón keinen Platz in ihrem Heiligenkosmos hat…

Im Zentrum der Verehrung: der Volksheilige Maximón

Dafür steht er hier, in dem schlichten Raum der Cofradia, im Mittelpunkt der Verehrung – in schwarzem Smoking, mit Hut, Sonnenbrille und Halstuch vor dem Mund wirkt die lebensgroße Puppe, die in einem kippbaren Stuhl sitzt, für uns zwar eher wie eine Mischung aus Wildwest-Ganove und Heino. Doch die indigene Bevölkerung sieht das ganz anders: Kerzen, je nach Lebenslage und Problem in verschiedenen Farben und Größen, brennen zuhauf, und zudem bekommt Maximón von den Betenden Rum eingeflößt und Zigarren zugesteckt – der Rum fließt durch den Mund in einen unsichtbaren Behälter; die Bruderschaft, verrät uns unser Guide, füllt die Spirituose anschließend wieder in die Flaschen und verkauft ihn an die nächsten Klienten.

Den Rum für den Heiligen…
…gibt’s gleich hier in allen Preislagen zu kaufen – je nach der Größe des Problems

Um den Bitten zum Erfolg zu verhelfen, geben die Gläubigen aber noch mehr Opfer – auf dem Dach des Gebäudes ist eine Art Altar aufgebaut; eigentlich eher eine Ansammlung von Feuerstellen, in denen zum einen Wachsfiguren vor sich hinschmelzen, an deren Rand aber auch Bier- und Coladosen für Maximón stehen und in deren Gluten geopferte Hühner langsam zu Asche verkokeln; wer keines dabei hat, kann hier praktischerweise gleich eines kaufen. Ein Hühnerstall direkt neben der Feuerstelle dient diesem Zweck; die dort hausenden Federtiere haben also ihr Krematorium bereits zu Lebzeiten vor Augen. Die Opferung selbst obliegt den Schamanen; die hilfesuchenden Klienten dürfen nicht aufs Dach… Umso erstaunlicher, dass wir Touristen die Erlaubnis bekommen, diesem Ritus beizuwohnen. Aber ein paar Quetzales (Guatemalas Währung) für die Cofradia machen es möglich.

Auf dem Dach werden die Opfergaben verbrannt
Altar für Maximón
Ist das Huhn verbrannt, ist das Problem gelöst
Die Hühner wissen noch nichts von ihrem Opfergang

Zunil hat außer dieser ganz besonderen, spezifisch guatemaltekischen Ausprägung des Volksglaubens aber noch mehr zu bieten. Über gewundene Bergstraßen, entlang zahlreicher kleiner Gemüsefelder, fahren wir hinein in die Wolken, bis wir auf fast 2.500 Metern mitten in den Bergen die Fuentes Georginas erreichen – heiße Quellen, die hier in den vulkanischen Bergen entspringen. Die Lufttemperaturen sind relativ kühl, sodass ein warmes Bad sehr angenehm ist – an einem Wochentag um die Mittagszeit sind auch nicht so viele Badegäste da, dass es im Thermalbecken eng werden würde. Eine tolle Überraschung; dass wir hier baden können, wussten wir heute früh auch noch nicht, zum Glück haben wir das gesamte Gepäck im Fahrzeug!

Hinauf in die Wolken…
…zu den Fuentes Georginas

Und wir knüpfen neue Kontakte: Eine Familie fragt uns, woher wir sind. Als wir sagen, dass wir aus Deutschland kommen, antwortet der Vater: „Oh, ich kenne nur ein deutsches Wort: Scheiße!“ Dann fällt ihm aber etwas wesentlich Schöneres auch noch ein, nämlich: „Ich liebe dich“. Dass Guatemalteken überhaupt deutsche Begriffe kennen, überrascht uns wiederum. Die Erklärung dafür ist zum einen, dass eine Angehörige Deutsch lernt; zum anderen aber, dass die Familie seit 31 Jahren in Stockholm lebt, perfekt Schwedisch spricht und dadurch auch ein paar deutsche Wörter kennt. Schweden, das ist nun wiederum für uns das Stichwort, um zu erwähnen, dass eine Tochter von uns ebenfalls in diesem skandinavischen Land lebt. Örebro ist den Guatemalteken durchaus ein Begriff; sie haben dort Bekannte, die sie bald besuchen wollen, wenn sie von ihrem Heimaturlaub zurück sind. Wir haben wenig Zeit, doch der Vater lässt mich nicht eher aus der Umkleidekabine gehen, bevor ich ihm Name und E-Mail-Adresse gegeben habe. Wenn er nach Örebro kommt, will er mit Denise Kontakt aufnehmen; falls wir mal nach Schweden kommen, sind wir herzlich bei ihm in Stockholm eingeladen. Ein paar Mal fällt der ungläubige Satz: „Wie klein ist doch die Welt!“

Entspannendes Bad im warmen Thermalwasser

Unser Guide drängt zum Aufbruch. Wir müssen zurück nach Quetzaltenango, um dort noch essen zu können, bevor die Weiterfahrt zum nächsten Etappenort erfolgt. Von unserem supernetten Fremdenführer werden wir bis zum „Umschlagplatz“ in San Francisco El Alto gebracht, danach geht es auf der Panamericana weiter. Die führt dabei bis auf eine Höhe von 3.100 Metern – ungläubig schauen wir aus dem Fenster und sehen dort Weiß! Schnee in Guatemala!? Angeblich ist es wohl eher eine Art Hagelschauer gewesen, aber es wirkt doch ziemlich winterlich hier oben; fast wie auf den Bildern, die uns heute früh aus der Heimat erreicht haben… Noch einmal müssen wir umsteigen, ehe wir abends unsere nächste Unterkunft, das Hotel Posada Chinimayá in Panajachel am Lago de Atitlán, beziehen können.

Hallo Deutschland – auch wir können Schneebilder bieten!