Mérida.
Die Tour nach Guatemala, die wir in der mexikanischen Agentur gebucht haben, soll ja am Sonntag mit dem Rücktransport von Antigua Guatemala nach San Cristóbal de las Casas enden. Doch nachdem wir die Strecke und die engen Colectivos mittlerweile kennen und wissen, dass die angegebenen Fahrzeiten in der Regel deutlich überschritten werden, können wir uns lebhaft vorstellen, dass aus den offiziellen 13 Stunden erheblich mehr werden. Abfahrt in Antigua wäre um fünf Uhr morgens; an der Grenze müssten wir die Uhr um eine Stunde vorstellen, Ankunft in San Cristóbal wäre demzufolge um 19 + x Uhr. Zudem haben wir für den nächsten Tag die Etappe zur Ruinenstätte Palenque geplant; und da fahren die Kleinbusse bereits nachts um vier Uhr los, weil sie wegen der politisch motivierten Blockade der Hauptstraße durch Zapatisten einen zeitraubenden Umweg über schlechte Nebenstraßen nehmen müssen. Diese Strapazen auf uns nehmen? Wenn es eine bezahlbare Alternative gibt, planen wir um – und wir werden fündig: Wir stornieren den Rücktransport sowie die beiden Hotelbuchungen in San Cristóbal und Palenque, buchen einen Flug von Guatemala-Stadt nach Cancún auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán, wo wir von Palenque aus sowieso hinfahren wollten, und lassen uns am Sonntagvormittag mit einem Shuttlebus von Antigua Guatemala zum Aeropuerto Internacional La Aurora bringen.

Mit einem Airbus 320 der mexikanischen Fluggesellschaft Volaris fliegen wir in nur 75 Minuten übers guatemaltekische Hochland und den dichten Dschungel Yucatáns in die mexikanische Ferienhochburg Cancún – leider um ein gutes Schweizer Taschenmesser erleichtert, denn das hatte Jana versehentlich in ihrem Tagesrucksack gelassen. Zum Glück haben wir noch ein zweites dabei!

In Cancún gelandet, müssen wir zunächst wieder die mexikanischen Pass- und Zollkontrollen passieren, ehe wir uns um die Weiterfahrt in das von uns kurzfristig gebuchte The Mermaid Hostel kümmern können. Taxis und Kleinbusse, die uns direkt vor die Haustür bringen würden, werden uns angeboten; die Preise erscheinen uns aber zu hoch – und siehe da, nach einigem Herumfragen stellen wir fest, dass es auch wesentlich günstigere Busse ins 16 Kilometer entfernte Zentrum gibt. Und von da sind dann auch die Taxis wesentlich billiger. Doch in diesem Touristen-Hotspot will man natürlich mit den unkundigen Neuankömmlingen Geld verdienen! Wer Spanisch spricht, ist da klar im Vorteil – so geht es auch der gerade aus Deutschland eingeflogenen dreiköpfigen Familie aus dem Landkreis Neu-Ulm, die wir im Bus kennenlernen. Die Eltern sind pensioniert und haben jetzt Zeit für längere Reisen; und die lateinamerika-erfahrene Tochter hat für sie die Reiseleitung übernommen, sodass auch sie den günstigen Linienbus nach Cancún gefunden haben. Wir müssen uns von unseren neuen Bekannten am Busbahnhof schon wieder verabschieden; unser dringlichstes Vorhaben ist jetzt erst einmal, an Bargeld zu kommen. Doch so einfach ist das nicht… schon die Automaten am Flughafen waren leer, und am Busterminal sieht es nicht besser aus. Es ist langes Wochenende, da kann so was schon mal vorkommen, wird uns gesagt. Also irren wir mit komplettem Gepäck durch Cancún, bis wir von einem freundlichen Polizisten den Weg zur passenden Bank gezeigt bekommen und anschließend endlich ein Taxi anhalten können, das uns zu unserer im Norden außerhalb des Zentrums gelegenen Unterkunft bringt.
Das hatten wir auch noch nicht: Unser Hostel liegt in einem Compound, einem gesicherten Wohnviertel! Der Taxifahrer muss an einer Kontrollstation anhalten, dort werde ich nach meinem Namen gefragt – und siehe da, der steht auf einem Ausdruck, wir dürfen rein! The Mermaid Hostel ist von außen überhaupt nicht als solches zu erkennen, aber die Adresse stimmt, die Tür lässt sich öffnen, die Rezeption ist besetzt, und wir bekommen unser geräumiges, sauberes Zimmer für die nächsten zwei Nächte. In der Küche geht es etwas chaotisch zu, das Frühstück muss man sich aus den angebotenen Zutaten weitgehend selbst zubereiten. Aber das wundert uns kaum, als wir mitbekommen, dass die Besitzer Argentinier sind… da war es ja vielerorts ähnlich!

Unsere Unterkunft liegt zu Fuß gerade einmal zwei Minuten vom Strand entfernt – eigentlich perfekt, um am Montag einen Erholungstag einzulegen, bevor wir unsere Erkundung von Mexiko fortsetzen. Als Stadt hat das erst 1969 gegründete, von Anfang an als Touristenzentrum vorgesehene Cancún, das mittlerweile weit über 600.000 Einwohner zählt, ohnehin nichts Interessantes zu bieten. Doch als wir den kleinen Strandabschnitt mit dem vielsagenden Namen Playa del Niño sehen, ist uns sofort klar, warum man uns im Hostel empfohlen hat, mit dem Bus an einen Strand in der langgezogenen Zona Hotelera (Cancún hat über 20 Kilometer Strände zu bieten) zu fahren: An dieser brandungsarmen Zone drängen sich Familien mit kleinen Kindern, und das noch verstärkt, weil der heutige 1. Mai ja ein Feiertag ist.
Also lassen wir uns mit dem Bus Richtung Zentrum bringen. Aber an welchen der zahlreichen Strände? Ein freundlicher Einheimischer empfiehlt uns die Playa Chac Mool: Sie sei schön, aber nicht überfüllt. Stimmt alles – und zudem haben wir das große Glück, dass nach einiger Zeit zwei Touristinnen gehen und uns ihre Liegestühle zur Verfügung stellen. Hier lässt es sich tatsächlich aushalten; und das Wasser der Karibik ist außerdem angenehm warm und sehr sauber.



Das von Hotels, Diskotheken, Kneipen und Einkaufszentren nur so zugestellte Cancún ist aber nicht der Ort, an dem wir wirklich länger bleiben wollen. Am Dienstag reisen wir deswegen bereits wieder ab und durchqueren den komplett von dichtem Buschland bewachsenen Norden Yucatáns in Richtung Westen, bis wir nach gut vierstündiger Fahrzeit in Mérida, der Hauptstadt des Bundesstaates Yucatán, angekommen sind. Als uns das Taxi am Hotel Caribe absetzt, in dem wir ein Zimmer für zwei Nächte gebucht haben, staunen wir Bauklötze: Wir logieren für einen günstigen Preis in einem wunderschön hergerichteten historischen Gebäude mit Säulengang und Patio, es handelt sich um ein ehemaliges Jesuitenkonvent!


Überflüssig zu erwähnen, dass wir mitten im Zentrum der 800.000-Einwohner-Stadt untergebracht sind. Rund um den kleinen, sehr gepflegten Parque Hidalgo, an dem sich unsere Unterkunft befindet, stehen noch zwei weitere stilvolle Hotels; direkt gegenüber ragt zudem die mächtige Fassade der Iglesia El Jesús auf – die 1618 fertiggestelle Jesuitenkirche der Stadt wurde wie so viele andere Gebäude jener Zeit mit den Steinen ehemaliger Maya-Tempel erbaut. Zwei Steine an der Fassade zeugen mit ihrer Dekoration noch von der früheren Verwendung.



Mehr über die Geschichte der Stadt erfahren wir, als wir am Mittwochmorgen zur nur einen Häuserblock entfernten Plaza de la Independencia gehen, dem absoluten Stadzentrum Méridas. Dort verteilen zwei junge Leute Flyer, mit denen sie für eine Free Walking Tour werben – ein Angebot, das es inzwischen in ganz vielen Städten gibt, von dem wir aber bislang noch nie Gebrauch gemacht haben, obwohl uns schon viele andere Reisende sehr begeistert davon erzählt haben.

Heute nehmen wir an dieser Tour teil – sie ist so angelegt, dass die Teilnehmer am Ende frei entscheiden können, ob und wie viel Geld sie freiwillig geben. Die junge Frau namens Sofía, die uns durch Mérida lotst, macht ihre Sache hervorragend: Wie sie uns nebenbei mitteilt, hat sie zusammen mit ihrem Freund zwei Jahre in Berlin gelebt. Dort und bei Reisen in Europa haben sie das Konzept kennengelernt und nach ihrer Rückkehr nach Mexiko-Stadt überlegt, wo in ihrem Heimatland sie dies selbst aufziehen können. Und so sind sie vor einem halben Jahr in Mérida gelandet…

Startpunkt des Stadtrundgangs ist die 1561 bis 1598 entstandene Catedral de San Ildefonso. Der mächtige doppeltürmige Bau beeindruckt zum einen durch seine gewaltigen Ausmaße, zum anderen durch das riesige Kreuz über dem Altar: Der Cristo de la Unidad soll die Versöhnung von Mayas und Spaniern symbolisieren. Stolz ist man in Mérida übrigens auf den Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahre 1993 – reichlich Bilder im Innenraum zeugen noch heute davon.

Die Pasaje de la Revolución gleich nebenan trennt die Kathedrale vom ehemaligen Bischofspalast, der heute in wiederaufgebauter Form als Museum für zeitgenössische Kunst dient – die Passage erinnert an die zapatistische Revolution vor etwa 100 Jahren.

Rund um die Plaza befinden sich noch eine Reihe weiterer bemerkenswerter Gebäude. Das geschichtlich bedeutendste ist die Casa de Montejo, die bereits auf das Jahr 1549 zurückgeht. Ihre reich geschmückte Fassade symbolisiert die Macht des spanischen Eroberers Francisco de Montejo des Älteren sowie seines Sohnes und seines Neffen, beide gleichen Namens.

Der Palacio Municipal an der Westseite der Plaza ist ein arkadengeschmücktes Bauwerk des 18. Jahrhunderts.

Vergleichsweise neu ist dagegen der Palacio de Gobierno: Der heutige Sitz der Provinzregierung, mit einem schönen Innenhof ausgestattet, entstand erst 1879, also lange nach der Unabhängigkeit Mexikos von Spanien.

Er enthält an den Mauern der Arkadengänge und in einem großen Saal, der zur Besichtigung freigegeben ist, 27 großformatige Wandgemälde zur Geschichte Yucatáns, die der Künstler Fernando Castro Pacheco in den 1970ern anfertigte. Der Palacio Nacional in Mexiko-Stadt mit Diego Riveras Murales stand da ganz zweifellos Pate.

Eine ganz besondere Geschichte wird mit der Darstellung von Gonzalo Guerrero erzählt: Der spanische Seemann überlebte 1511, also acht Jahre vor dem Beginn der Eroberung Mexikos durch Hernán Cortés, zusammen mit einem Priester ein Schiffsunglück, geriet danach in Maya-Gefangenschaft und heiratete später die Tochter des Häuptlings der Chetemal. Als Cortés 1519 auf ihn und den Priester Jerónimo de Aguilar stieß, blieb Guerrero freiwillig bei den Maya – er hatte dort ja inzwischen eine Familie, sein Sohn war der erste Mestize überhaupt (ein Begriff für einen Nachkommen von einem weißen und einem indigenen Elternteil). Auch in den folgenden Kämpfen zwischen Indios und Spaniern hielt er zu den Einheimischen und starb 1536 bei einer Schlacht in Honduras, was ihm noch heute höchste Verehrung einbringt.

Wir lernen noch einige weitere wunderschöne Innenhöfe kennen – einer davon schmückt die Hallen der Universidad Autónoma de Yucatán. Diese Patios haben hier beileibe nicht nur eine dekorative Funktion: In Mérida wird es tagsüber richtig heiß, im Mai, kurz vor Beginn der Regenzeit, sind Höchsttemperaturen nahe der 40° Celsius nicht ungewöhnlich. Da spenden die überdachten Innenhöfe ganz wichtigen Schatten, von dem auch die Räume, die gewöhnlich sehr hoch gebaut sind, profitieren.


Wir laufen durch die von zahlreichen wunderschönen kolonialen Gebäuden gesäumten Straßen der Altstadt vorbei am Teatro José Peón Contreras in Richtung Parque de Santa Lucía.



Er ist Zentrum eines Viertels, in dem früher die Schwarzen lebten – afrikanische Sklaven, denen es verboten war, in der weißen Innenstadt zu wohnen. Im Park sehen wir überdimensionale Stühle für zwei: Sie sind das Symbol für die hier typischen Konversationsbänke und so angeordnet, dass man in entgegengesetzte Richtungen sitzt. Man kann sich bestens unterhalten, Händchenhalten und Küssen ist kein Problem – doch intensiver kann der Austausch von Zärtlichkeiten unter diesen Bedingungen nicht werden; und genau das wollte einer Erzählung nach der misstrauische Vater einer hübschen Tochter mit dieser Erfindung auch bezwecken…

Noch eine hochinteressante Legende lernen wir bei unserem Streifzug durch Mérida kennen: Geschäfte verkaufen hier mit bunten Schmucksteinchen beklebte große Käfer, die von den einheimischen Frauen auch heute noch als lebendige Brosche auf der Kleidung getragen werden. Die flugunfähigen Käfer, Maquech genannt, sind mit einer Kette angehängt und werden in einem kleinen Käfig gehalten, in dem sich eine Holzart befindet, von der sich die Insekten ernähren. Verbunden ist diese Tradition mit einer rührseligen Geschichte: Eine Maya-Prinzessin bekam von ihrem Vater nach jedem Kriegszug wunderschöne Geschenke. Einmal brachte der Herrscher auch einen Gefangenen mit. Die Tochter dachte, er sei diesmal das Geschenk des Vaters, und verliebte sich sofort in den gut aussehenden fremden Krieger. Das war nun aber gar nicht im Sinne des Herrschers. Er ordnete an, den Liebhaber der Tochter zu opfern, damit sie standesgemäß heiratete. Die Tochter flehte um das Leben ihres Geliebten und setzte schließlich durch, dass dieser, statt getötet zu werden, von einem Schamanen in einen Käfer verwandelt wurde. Diesen ließ sie mit Edelsteinen bedecken und trug ihn fortan immer mit sich, auch wenn sie nach außen gehorsam die vom Vater gewünschte Ehe führte.

Nach Einbruch der Dunkelheit finden in Mérida jeden Tag Aktivitäten statt, die kostenlos besucht werden können – sicher auch verstärkt durch den Fakt, dass die Stadt 2017 den Titel Capital Americana de la Cultura trägt, der auf unserem Kontinent bekannten Kulturhauptstadt Europas vergleichbar. Am Mittwochabend ist es eine Video- und Tanzvorführung vor der Casa de Montejo – und sie bringt uns sehr anschaulich und verständlich die Herrscherattitüden der spanischen Eroberer und die hilflose Wut der unterworfenen Maya nahe, aus der sich in einem äußerst schmerzhaften Prozess die neue Mestizen-Nation Mexiko entwickelte; mit Traditionen und Gebräuchen, die aus beiden Kulturen stammen und sich gegenseitig beeinflussten.


