Guadalajara.
Klein ist sie nun wirklich nicht, die Hauptstadt des Bundesstaates Jalisco: 1,5 Millionen Menschen leben in der zweitgrößten Stadt Mexikos, die etwa 500 Kilometer von der Hauptstadt entfernt im westlichen Hochland auf gut 1.500 Metern liegt. Zählt man die Städte in der sich weit ausdehnenden Agglomeration hinzu, kommt man in der Metropolregion sogar auf weit über vier Millionen Einwohner.
Unsere Unterkunft, das Hostal Casa Vilasanta, liegt zwar nicht direkt im Zentrum, dennoch sind die meisten sehenswerten Orte der Stadt von hier gut zu Fuß erreichbar. Und eine der interessantesten Kirchen Guadalajaras, der Templo Expiatorio de Santísimo Sacramento, liegt praktisch gleich um die Ecke. Mit dem Bau des neugotischen Gotteshauses wurde 1897 begonnen, die Fertigstellung erfolgte jedoch erst 1972. Es gilt als das architektonisch gelungenste dieser Stilrichtung im gesamten Land.


Gleich daneben befinden sich mehrere Universitätsgebäude – Guadalajara ist eine Studentenstadt mit mehr als zehn Hochschulen, darunter viele private. Besonders schön ist das neoklassizistische, an der Plaza las Ramblas Cataluña befindliche Museo de los Artes, das wir allerdings nur von außen bewundern.

Um das Herz der Innenstadt zu erreichen, müssen wir gerade einmal einen 20-minütigen Fußmarsch hinter uns bringen – vorbei an Straßen, in denen zunächst ein medizinisches Fachgeschäft neben dem anderen steht; anschließend folgen reihenweise Händler, bei denen sich Friseure und Kosmetiker ausstatten können (zum Glück auch einen Friseur – ich brauche dringend mal wieder einen…), und dann schließt sich ein ganzer Straßenzug mit Woll- und Bastelläden an. Eine andere, große Ausfallstraße aus der Stadt ist nur so gespickt mit Brautmoden-Boutiquen… uns ist das ja schon häufiger während unserer Reise aufgefallen, hier in Guadalajara aber wieder mal besonders stark: Das erinnert an die mittelalterlichen Zunftgassen in europäischen Altstädten!

Und dann stehen wir an der Plaza Guadalajara: Unübersehbar ragen die Doppeltürme der Kathedrale empor und lenken uns gleich zur bedeutendsten Sehenswürdigkeit der 1532 gegründeten Stadt. Der Sitz des Erzbischofs wurde zwischen 1561 und 1621 errichtet. Uns gefällt besonders das nicht überladen wirkende Innere, das in festlichem Weiß erstrahlt und durch die Buntglasfenster einen besonderen Akzent erhält.


Rundherum entdecken wir noch eine Reihe weiterer interessanter Bauwerke. Der Palacio Municipal wirkt ebenfalls wie ein Bau aus alter Zeit, nicht zuletzt dank seines sehr schönen Innenhofs, errichtet wurde das Rathaus der Stadt allerdings erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts.


Wesentlich älter ist der Palacio de Gobierno, der nur eine Straßenecke entfernt ist. Der Barockpalast aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, Sitz der Regierung des Bundesstaates Jalisco, wurde von einem der größten Maler des Landes, dem aus der Nähe von Guadalajara stammenden Muralisten José Clemente Orozco, 1937 mit einem Gemälde veredelt, dessen Dimensionen tatsächlich atemberaubend sind. Über dem Treppenaufgang des Regierungspalastes hält das riesige Abbild des Freiheitskämpfers Miguel Hidalgo eine ebenso gewaltige Fackel in der Hand und ruft damit die mexikanische Bevölkerung zum Kampf gegen die spanischen Besatzer auf.



Und da Orozco sein Werk in einer Zeit schuf, in der die Demokratie weltweit gleichermaßen durch das Erstarken des Faschismus und des Kommunismus gefährdet war, nutzte er eine der Seitenwände gleich noch dazu, um eindringlich zum Widerstand gegen diese totalitären Ideologien aufzurufen. Ein inzwischen 80 Jahre altes Monumentalkunstwerk, das nichts von seiner Eindringlichkeit eingebüßt hat!


Guadalajaras lebendiges Zentrum ist zwar keine Altstadt wie aus einem Guss – für Städte dieser Größe ist das aber ganz normal. Dennoch wurde sie aufgrund ihrer zahlreichen bedeutenden Bauwerke in die UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgenommen. Einige weitere Mosaiksteine der Stadt, die wir bei unserem Rundgang kennenlernen, sind die Rotonda de los Jaliscienses Ilustros (ein ganzer Platz, der berühmten Persönlichkeiten von Jalisco gewidmet ist), das sich daran anschließende, bedeutende Regionalmuseum, die Iglesia de Nuestra Señora de las Mercedes, und das nach italienischem Vorbild 1866 fertiggestellte Teatro Degollado, an der Plaza de la Liberación gleich hinter der Kathedrale gelegen.


Um noch ein bisschen mehr von Guadalajara kennenzulernen, entscheiden wir uns zu einer Stadtrundfahrt mit einem doppelstöckigen Touristenbus. Allerdings ist der Zeitpunkt wohl nicht perfekt gewählt, denn abends um sechs Uhr stehen wir mehr im Feierabendstau, als zu fahren. Und die Tour, die hinaus in einige moderne Stadtviertel führt, bietet nicht ganz so viel Sehenswertes, wie wir uns das erhofft haben. Immerhin lernen wir auf diese Weise einige modernere Landmarken der Stadt kennen, so die 1938 anlässlich der Einweihung einer Fernstraßenverbindung erbauten Los Arcos und die Arcos del Milenio, einer zur Jahrtausendwende errichteten Installation.


Eine weitere Seite Guadalajaras lernen wir kennen, als wir am Sonntag etwa gleich weit in die entgegengesetzte Richtung laufen – die Avenida Chapultepec ist ein breiter Boulevard, von modernen Häusern gesäumt und in der Mitte mit schattigen Bäumen und wasserspendenden Brunnen bestückt. Hier reihen sich zahlreiche Bars und Kneipen aneinander, viele sind im Stil amerikanisch angehaucht – die Stadt ist auch ein wichtiger Industriestandort und wird oft als Silicon Valley Mexikos bezeichnet, das Lebensgefühl der Menschen spiegelt sich hier gut wider.


Als wir in Richtung unseres Hostels zurücklaufen, kommen wir wieder an der Plaza las Ramblas Cataluña vorbei. Musikanten, Tänzerinnen, Reiter – irgendwas ist da gerade im Gange! Wir schauen einfach mal hin und erleben in den nächsten eineinhalb Stunden eine tolle Veranstaltung, von der wir zuvor überhaupt nichts wussten und die sich uns erst allmählich so richtig erschließt. Wie sagt Jana in so einem Fall gerne: „Das ist das Tolle am Reisen – man lässt sich einfach durch die Straßen treiben und entdeckt plötzlich etwas völlig Überraschendes!“

Zunächst nehmen wir einfach nur auf, was wir da sehen und hören: Kunstvolle Pferdevorführungen, schwungvolle Melodien einer einheimischen Mariachi-Gruppe, dazu Tänzerinnen in den bunten Trachten ihrer Heimat… das allein ist schon mitreißend, doch hier passiert noch mehr: Dutzende von prächtigen Agavenherzen sind auf dem Platz aufgereiht, die Bauern, auf deren Feldern sie gewachsen sind, stehen stolz daneben, die Agavenköniginnen aus den Tälern des Umlandes posieren fürs Gruppenbild – und schließlich werden die größten Agavenherzen gewogen und schließlich der Landwirt mit der schwersten Frucht prämiert (ein Gewicht, das wir mitbekommen, liegt bei 117 Kilogramm).





Das ganze Schauspiel ist nur der Auftakt für einen Umzug, der im Anschluss daran vor dem Museumsgebäude beginnt. Sogar ein Fernsehsender überträgt die Veranstaltung: Ein Moderator samt püppchenhafter Assistentin als Blickfang informiert das TV-Publikum über die Geschichte der Veranstaltung und interviewt einige Mitwirkende. Oldtimer und moderne Lieferwägen rollen bunt durcheinander in Richtung Innenstadt, wo zum Abschluss dann noch ein Konzert stattfinden wird – das Ganze in Erinnerung an Andrés Z. Barba, einen der wichtigsten Tequila-Hersteller des frühen 20. Jahrhunderts, dessen Marke Tequila Alteño heute einen großen Bekanntheitsgrad genießt. Das alles erzählt uns die Enkelin des Patriarchen, inzwischen selbst eine Mittfünfzigerin. Kann gut sein, dass dieser Betrieb die ganze Veranstaltung organisiert hat…


