Mexiko-Stadt.

Noch einmal steigen wir am Montagmorgen in einen toll ausgestatteten Erste-Klasse-Reisebus ein – von Guanajuato fahren wir mehr als fünf Stunden südostwärts, bis wir das Terminal Mexiko-Nord erreicht haben, den größten der vier Busbahnhöfe der Hauptstadt. Unsere Tagesetappe ist damit jedoch noch nicht beendet: Wir brauchen noch eine regionale Busgesellschaft, die uns hinaus zur weltberühmten Ruinenstätte Teotihuacán bringt – genau gesagt in die etwa 45 Kilometer außerhalb liegende Kleinstadt San Juan Teotihuacán. Dort wohnen wir in dem kleinen Ortsteil San Sebastián Xolalpa im Hotel Quetzalcalli – hier sind wir die einzigen Gäste, es ist gerade Nebensaison. Dörflich-gemütlich geht es hier bei angenehmen Temeraturen auf fast 2.300 Metern Meereshöhe zu; in der Nachbarschaft hört man die Schweine im Stall grunzen, die Hotelanlage hat einen großen Garten mit einer ausgedehnten, frisch gemähten Rasenfläche, und für die Grundversorgung vor Ort gibt es einen Tante-Emma-Laden und ein Restaurant, das zu Fuß keine fünf Minuten entfernt ist.

Wohnen auf dem Lande in San Sebastián Xolalpa

Da die mit dem Auto aus der Großstadt anreisenden Tagesgäste ansonsten garantiert vorbeifahren würden, steht an der Hauptstraße kurz vor der Abzweigung ins Dorf ein junger Mann und winkt den Fahrern mit einer Speisekarte zu. Wir haben ihn zuvor schon gesehen, als wir mit dem Taxi angekommen sind; nun laufen wir auf ihn zu, um uns über das Speisenangebot zu informieren. Es ist kurz vor sechs Uhr, das archäologische Gelände hat bereits geschlossen; da kommt eh kaum noch jemand vorbei, und so hat Leo („eigentlich Lionel, genau wie Messi“, stellt er sich vor) Zeit, sich mit uns zu unterhalten. Sein Traumjob ist das sicher nicht, den ganzen Tag an der Straße zu stehen und eine Speisekarte hochzuhalten; aber irgendwie muss er sich und seine kleine Familie – er hat eine Tochter – ja durchbringen. Seit drei Jahren lebt er nun in Mexiko, erzählt er. Eigentlich stammt er nämlich aus Caracas, der Hauptstadt von Venezuela; aber die Verhältnisse in seiner Heimat veranlassten ihn zum Auswandern. Eltern und Freunde hat er seither nicht mehr gesehen; und wie es in seiner Heimat weitergehen soll, ist ungewisser denn je… Ein so schönes Land, so freundliche Menschen, schwärmt er; aber es hat momentan einfach keinen Sinn, dorthin zu fahren. Weswegen wir ja auch schon von Anfang an beschlossen haben, Venezuela auf unserer Tour auszulassen.

Erster Blick auf Mond- und Sonnenpyramide

Dafür sind wir jetzt hier in Mexiko und wollen dieses tolle Land nicht verlassen, ohne eine seiner bedeutendsten Sehenswürdigkeiten kennengelernt zu haben – die Ruinenstadt Teotihuacán, die sich praktisch direkt vor unserer Haustür in einer weiten, von alten Vulkanen umgebenen Hochebene ausdehnt. Gleich nach dem Frühstück, noch bevor allzu viele Busgruppen aus Mexiko-Stadt herausgekommen sind, laufen wir zum nächstgelegenen der fünf Eingangstore, durch die das über vier Quadratkilometer große Areal betreten werden kann. Und staunen: Der Eintritt in das riesige Gelände kostet umgerechnet gerade mal 3,50 Euro! Da wird bei anderen, ähnlich bekannten UNESCO-Weltkulturerbestätten ganz anders hingelangt.

Altes, liebevoll dekoriertes Gemäuer…

Hier im zentralen Hochland befinden wir uns im Zentrum des Aztekenreiches. Der Begriff Teotihuacán stammt folgerichtig auch aus der Aztekensprache und bedeutet: „Wo man zu einem Gott wird“. Doch nicht die Azteken haben die unglaublich beeindruckenden Bauwerke, die hier heute noch zu bewundern sind, errichtet; als sie hierher kamen, war Teotihuacán bereits eine seit Jahrhunderten verlassene Ruinenstätte. Die Azteken interpretierten den Ort als eine Stätte, an der sich Götter geopfert hatten, um ihrem Reich den Weg zu ebnen, und verehrten ihn entsprechend. Mögliche Zeugnisse über die frühere Geschichte Teotihuacáns verschwanden spätestens im 16. Jahrhundert, als die Spanier alle ihnen heidnisch erscheinenden Dokumente, die ihnen in die Hände kamen, vernichteten.

Beeindruckende Überreste einer versunkenen Großstadt

So sind die Wissenschaftler heute darauf angewiesen, mit naturwissenschaftlichen Messmethoden und durch Interpretation von Fundstücken die Entwicklungsgeschichte einer der bedeutendsten präkolumbischen Stadtanlagen des amerikanischen Kontinents nachzuzeichnen. Heute geht man davon aus, dass aus schon lange zuvor bestehenden Dörfern etwa ab 100 v. Chr. eine Stadtanlage entstand, in der bereits 20.000 Menschen lebten. In der Tzacolli-Phase genannten Zeit bis etwa 150 n Chr. wurden bereits einige der bedeutendsten Bauwerke errichtet, die Teotihuacán noch heute prägen. In der Tlamimilolpa-Phase (200 – 450) stieg Teotihuacán dann endgültig zu einer Großmacht mit einer für damalige Verhältnisse unglaublichen Einwohnerzahl von 100.000 – 200.000 auf. Die Zeit der größten Machtausdehnung fiel schließlich in die Xolalpan-Phase (450 – 650), als die Kultur Teotihuacáns bis weit ins Maya-Reich ausstrahlte. Die Gründe für den anschließenden Niedergang liegen im Dunklen; doch spätestens gegen 750 scheint die Stadt von ihren früheren Bewohnern weitgehend verlassen worden zu sein.

Weit erstreckt sich Teotihuacán in der Hochebene

Was heute nach über einem Jahrhundert intensiver archäologischer Arbeit noch und wieder zu sehen ist, beeindruckt die Besucher aus aller Welt nachhaltig. Größter und zentraler Bau der Stadt ist die um das Jahr 100 entstandene Sonnenpyramide: Mit einem Grundriss von 225 x 225 Metern ist sie die drittgrößte der Welt. Der massive Bau besteht im Inneren aus gestampftem Lehm, außen zieht sich eine breite Treppe über vier Stufen bis zu einem Gipfelplateau.

Vor der drittgrößten Pyramide der Welt…

Der steile Aufstieg wird in 70 Metern Höhe mit einem tollen Blick über die Stadtanlage belohnt. Die lange vorherrschende Auffassung, die Pyramide sei dem Sonnengott geweiht, ist heute allerdings der These gewichen, die gewaltige Tempelanlage habe der Verehrung des Wassergottes gedient.

Blick von der Sonnenpyramide über die Calle de los Muertes zur Mondpyramide

Die Stadt wird von der Calle de los Muertes (Straße der Toten) in Nord-Süd-Richtung durchzogen – schon die Azteken nannten sie so, weil sie glaubten, die Gebäude entlang der mehrfach von Treppendämmen unterbrochenen Hauptstraße seien Grabdenkmäler. Heute gehen die Wissenschaftler aber davon aus, dass es sich dabei um Wohnhäuser der Eliten handelte.

Antike Prachtstraße Calle de los Muertes

Am Nordende der Prachtstraße erhebt sich die zweite große Pyramide. Ihre Grundfläche beträgt 120 x 150 Meter, die Höhe 46 Meter. Sie ist wohl 100 Jahre später als ihre Vorgängerin errichtet worden, wirkt in ihrer Anlage etwas eleganter und ist heute unter der Bezeichnung Mondpyramide bekannt. Von der kleineren Schwester genießen wir den wohl besten Blick über ganz Teotihuacán.

Eleganter Bau: die Mondpyramide

Ihr vorgelagert ist die schöne, von 13 gestuften Plattformen umgebene Plaza de la Luna. Über sie gelangt man zurück auf die Calle de los Muertes, vorbei an der Sonnenpyramide und ein Stück weiter südöstlich zur Ciudadela, einer etwas seitlich gelegenen Stadt in der Stadt, die die Wissenschaftler mit der Verbotenen Stadt in Peking vergleichen – eine gegenüber der äußeren Umgebung weitestgehend abgeschirmte Siedlung der höfischen Klasse.

Der Tempel des Quetzalcoatl

Mittendrin: der Tempel des Quetzalcoatl, der Gefiederten Schlange. Die tollen Wandreliefs mit Kopfskulpturen dieser Gottheit gehören zum künstlerisch Wertvollsten, was Teotihuacán zu bieten hat.

…mit tollen Skulpturen

Andere Artefakte, aber auch ein großformatiges Stadtmodell und Ausgrabungen von Skeletten, die auf dem Gelände gefunden wurden, befinden sich in einem interessanten Museum, das auf dem Ausgrabungsgelände entstanden ist.

Das Museum zeigt Keramiken…
…Steinskulpturen…
…und ein Stadtmodell vor der Kulisse der Sonnenpyramide

Teotihuacán ist es auf jeden Fall wert, einen ganzen Tag dort zu verbringen – wir bleiben noch eine weitere Nacht im friedlichen San Sebastián Xolalpa, ehe wir am Mittwoch unsere zweimonatige Schleife durch Mexiko endgültig schließen: Mit dem Bus geht es wieder nach Mexiko-Stadt zurück und vom Busterminal Nord mit der Metro direkt ins Herz der Riesenstadt. Dort haben wir für die letzte Nacht das günstige Hostal Mexiqui direkt hinter der Kathedrale gebucht; wie wir vom Besitzer, einem Holländer, erfahren, hat es hinter lange Zeit leerstehenden historischen Fassaden gerade erst vor zwei Wochen aufgemacht.

Aufenthaltsraum unseres Hostels mit Traumausblick

Die Lage ist perfekt – so können wir am Nachmittag ganz entspannt noch eine kleine Runde durch die Stadt drehen, in der wir vor fast zwei Monaten den Aufenthalt in diesem faszinierenden Land begonnen haben. Wie an unserem ersten Tag in Mexiko-Stadt essen wir noch einmal im gleichen Restaurant in der Calle Uruguay, in der wir eine Woche gewohnt haben, das gleiche leckere Gericht (Molcajete). Zum Glück haben wir die Sehenswürdigkeiten rund um den Zócalo schon alle fotografiert; heute wäre das schlecht möglich, weil auf dem Platz gerade die Fería Internacionál de las Culturas Amigas stattfindet – eine Art Ausstellung, in der sich Länder aus aller Welt an kleinen Ständen präsentieren können. Wir bummeln mal durch und stellen fest: Die Entwicklungsländer sind da meist sehr viel ideenreicher und farbenfreudiger als die Europäer oder Nordamerikaner. Auch der deutsche Stand ist mehr info- als unterhaltungslastig – dennoch ist er ziemlich gut besucht.

Mitten auf dem Zócalo: die Fería Internacionál de las Culturas Amigas

Zurück im Hostel, haben wir abends vom Aufenthaltsraum aus einen traumhaften Blick auf den wunderschön angestrahlten Präsidentenpalast am Zócalo, auf dem noch lange Trommel- und Tanzdarbietungen stattfinden – ein stimmungsvoller Abschluss von zwei Monaten Mexiko; morgen geht es auf zu unserer nächsten Etappe: zurück nach Südamerika, auf nach Kolumbien!

Palacio Nacionál in abendlichem Lichterglanz (Blick aus dem Hostelfenster)