El Cocuy.

Vergangenen Mittwoch haben wir den Tourismusmanager von El Cocuy zufällig in Tunja getroffen – knapp eine Woche später, am Dienstag, brechen wir nun dorthin auf. Die Informationen über die Gegend am Fuße der nördlichen Cordillera Oriental haben uns überzeugt, für ein paar Tage in diese entlegene Bergregion zu fahren. Von Sogamoso geht es mit einem der zahlreich verkehrenden Nahverkehrsbusse zunächst in die Nachbarstadt Duitama. Dort müssen wir eine Stunde auf den Anschluss in Richtung El Cocuy warten – es ist wieder einmal ein Kleinbus, und wir sind die einzigen Ausländer. Acht Stunden, hat man uns gesagt, soll es dauern, bis die knapp 200 Kilometer zurückgelegt sind – wir richten uns also auf eine lange Fahrt ein. Wie wir es aus anderen Andenländern schon kennen, windet sich die Straße in unzähligen Kurven über Berg und Tal nordostwärts. Dabei gibt es ziemliche Höhenunterschiede zu bewältigen – in der Nähe von Boavita machen wir im Tal des Río Chicamocha Mittagspause, hier ist es warm und sonnig; anschließend führt die Straße wieder endlos bergauf, und es wird empfindlich kühl und regnerisch.

Mittagspause in der Wärme…

Wir sind es ja gewohnt, dass die Zeitangaben für Busfahrten nicht unbedingt sehr genau sind – meist wird die Dauer großzügig abgerundet. Umso überraschter sind wir, dass wir kurz nach 16 Uhr und nach nur sechseinhalb Stunden bereits unseren Zielort erreicht haben. Als wir aussteigen, werden wir sofort von einem Tourguide namens Giovanni angesprochen – er hilft uns beim Tragen des Gepäcks und geleitet uns ins gemütliche kleine Hotel San Gabriel, wo wir ein Zimmer für drei Nächte gebucht haben.

Unser Hotel San Gabriel…
…mit einem stilvollen Innenhof

Giovanni macht uns bei dieser Gelegenheit gleich auch die verschiedenen Bergwanderungen schmackhaft, die angeboten werden – doch die drei Standardtouren im nahen Parque Natural Nacional El Cocuy beginnen allesamt auf einer Höhe von 4.000 Metern und führen bis 4.900 Meter  hinauf zu den Gletscherzungen – den größten Lateinamerikas nördlich des Äquators, wie er uns stolz erklärt. Zudem werden jeweils etwa neun Stunden dafür veranschlagt – deutlich mehr als die Wanderungen in vergleichbaren Höhen, die wir in Peru unternommen haben. Und wie wir inzwischen wissen, legen die drahtigen südamerikanischen Bergführer ein ganz gehöriges Tempo an den Tag. Also fragen wir nach einer kürzeren, weniger anstrengenderen Alternative; Giovanni fällt selbstverständlich auch dazu etwas ein.

Idyllisch gelegenes Bergdorf El Cocuy

Am Mittwochmorgen steht er pünktlich um acht Uhr mit seinem Geländewagen vor unserem Hotel und bringt uns über eine holprige, steinige Piste mehr als 1.000 Höhenmeter bergauf bis zu einem Punkt namens El Mirador, an dem sich ein Kontrollposten des Nationalparks befindet. Wer hinauf zu den Gletschern wandert, muss hier Eintritt zahlen – der Weg, den wir laufen werden, ist aber kostenlos und ohne Guide machbar. Umso besser für uns, denn für den Transport hierher und zurück werden wir um die stolze Summe von 160.000 Pesos (gut 50 Euro) erleichtert. Wir sollen uns nicht wundern, gibt uns der Nationalpark-Wächter mit auf den Weg, wenn wir unterwegs von Bauern angesprochen werden, die uns fragen, wohin wir laufen – und nur ein paar hundert Meter nach unserem Aufbruch ist genau das der Fall. Als wir unser Ziel nennen, ist das für ihn okay; er ermahnt uns nur, keinen Müll liegen zu lassen. So ganz unkompliziert ist das Verhältnis zwischen den staatlichen Behörden und den indigenen U’was, deren Heimat diese Hochgebirgsregion ist, nicht… Immer wieder versperrten die Einheimischen in der Vergangenheit den Zugang zu den Bergen. Die Begründungen waren unterschiedlich: Mal erklärten sie die empfindliche Natur durch die Touristen für bedroht, mal waren es heilige Stätten in den Bergen, die Fremde nicht besuchen sollten. Die letzte Totalsperrung liegt noch nicht lange zurück. Jetzt ist wieder ein Übereinkommen mit der Regierung erzielt worden und die erwähnten drei Bergtouren sind erlaubt. Giovanni, der uns unterwegs mit der Thematik vertraut gemacht hat, hat naturgemäß eine andere Sicht der Dinge: Die Argumente der U’was seien vorgeschoben, in Wirklichkeit gehe es nur ums Geld. Die Indigenen hätten sich daran gewöhnt, von den Subventionen der Regierung zu leben. Was wirklich stimmt, können wir in der kurzen Zeit sicherlich nicht herausfinden…

Unsere Wanderung im Tal des Río Lagunillas beginnt…

Auf unserer Wanderung dürfen wir uns ein wenig auf den Spuren von Erwin Kraus fühlen, einem deutschstämmigen Kolumbianer, der hierzulande als Vater des Bergsteigens gilt. Die Tour führt zwar ein wenig auf und ab, ist aber nicht übermäßig anstrengend. Wir konzentrieren uns auf die wunderbare Natur, obwohl es bei Temperaturen von vielleicht 10° Celsius recht bald zu regnen beginnt und die Wolken tief in den Bergen hängen. Im Tal des Río Lagunillas, das wir hinauflaufen, herrscht dasselbe Páramo-Ökosystem vor, das wir schon vor drei Tagen bei unserer Wanderung bei Monguí kennengelernt haben. Frailejones wachsen auch hier in großer Zahl, dazu entdecken wir verschiedene, in den unterschiedlichsten Farben blühende Gebirgsblumen und sogar eine Eule, die uns aufmerksam beäugt.

Wo es genügend Wasser gibt…
…wachsen auf diesen Höhen die Frailejones
Tolle Blumen am Wegesrand…

Eule auf Beobachtungsposten

Nach gut zwei Stunden haben wir die Laguna Pintada erreicht: ein kleiner Bergsee auf exakt 3.974 Metern, der bei Sonnenschein in den verschiedensten Farben schimmert. Leider haben wir keine Chance, dieses Farbenspiel mitzuerleben – der Regen hört zwar allmählich auf, doch die dichten Wolken lassen kaum einen Sonnenstrahl durchdringen. Immerhin geben sie jetzt Zug um Zug mehr von der grandiosen Bergwelt ringsherum frei, sodass wir den kegelförmigen, 4.900 Meter hohen Campanilla Negro, der gleich hinter der Lagune aufsteigt, zu Gesicht bekommen.

Wanderung im Regen…
Laguna Pintada und Campanilla Negro
Auch der Gegenhang gipfelt in einer schroffen Felsformation

Auf dem Rückweg bessert sich die Sicht dann rapide. Immer mehr Wolkenlücken tun sich auf, der blaue Himmel kommt zum Vorschein, und auf der anderen Flussseite entfaltet sich nun das Panorama der bis auf über 5.300 Meter hoch aufragenden Kordillerenkette. Und tatsächlich, die Prospekte lügen nicht – jetzt sehen wir auch Gletscherzungen, die sich von den Bergriesen talwärts schieben.

Rückweg bei besserem Wetter…
…mit Blick auf den frei mäandernden Gebirgsfluss
Der Wolkenschleier lüftet sich…
…und gibt immer mehr von der Schönheit der Landschaft frei

Sogar die spektakulärste Felsformation namens El Púlpito del Diablo, die wir schon gar nicht mehr geglaubt hatten zu sehen, wird, als wir fast zurück am Auto sind, für kurze Momente sichtbar – bei diesem Wahrzeichen des Nationalparks handelt es sich um einen 70 Meter hohen, quaderförmigen Felsblock, der gleich neben dem 5.100 Meter hohen Pan de Azúcar aus dem ewigen Eis aufragt. Dass die Gletscher auch hier rapide abschmelzen, kann angesichts des mit Ausnahme von Donald Trump wohl kaum von jemandem bestrittenen Klimawandels nicht überraschen…

Hoch oben im Schnee: El Púlpito del Diablo

Am Donnerstag verbringen wir einen geruhsamen Tag in El Cocuy. Der auf 2.750 Metern liegende, 4.000 Einwohner zählende Ort ist dazu wirklich perfekt geeignet – in den schmalen Gassen sind kaum Autos unterwegs, die paar Touristen, die es unter der Woche hierher verschlägt, sind vormittags überwiegend in den Bergen unterwegs. So begegnen wir fast ausschließlich Einheimischen, die uns Fremde neugierig beobachten, freundlich grüßen und sich freuen, dass wir den Gruß erwidern.

Gepflegtes kleines Bergdorf El Cocuy…
…hier geht das Leben seinen geruhsamen Gang

Giovanni hat uns gestern erzählt, dass der Ort noch vor 30 Jahren 25.000 Einwohner hatte. Kaum zu glauben, doch nach seinen Erzählungen war es noch damals ganz normal, dass jede Familie zehn bis 15 Kinder hatte. Heute ist auch hier die Zwei-Kinder-Familie die Regel. Dazu kam noch der lange währende Bürgerkrieg in der Region: Das Zeitalter der Gewalt, wie sich unser Fahrer ausdrückt, führte dazu, dass viele Dorfbewohner die Flucht in die großen Städte antraten.

Typische Gasse in der Ortsmitte

Erst seit etwa 15 Jahren herrscht Frieden in El Cocuy. Man merkt es dem Ort an, dass er trotz seiner fantastischen landschaftlichen Lage noch keine lange touristische Tradition besitzt. Es gibt nur eine Handvoll vernünftiger Unterkünfte und kaum Restaurants, die kleinen Läden, Cafés und Schnellimbisse verströmen einen sehr rustikalen Flair, und das Büro der Busgesellschaft, mit der wir morgen weiterfahren wollen, hat die ganze Zeit geschlossen. Ein Nachbar, der mitbekommt, dass wir vergeblich an der verschlossenen Tür klopfen, hilft uns weiter: Er ruft die zuständige Dame einfach mal an, sagt ihr, dass da zwei Ausländer Bustickets kaufen wollen, und zehn Minuten später ist die gute Frau da…

Historische Fassaden am Parque Principal
Modell des Nationalparks mit seinen schneebedeckten Gipfeln auf dem Marktplatz

Neben einer großzügigen Plaza mit der auf das frühe 18. Jahrhundert zurückgehenden Pfarrkirche Nuestra Señora del Rosario, die erstaunlich groß und auch im Inneren durchaus sehenswert ist, beeindruckt El Cocuy auch noch mit seinen zahlreichen alten Kolonialgebäuden – trotz seiner abgeschiedenen Lage wurde der Ort bereits sehr früh, zwischen 1533 und 1542, besiedelt. Nach einer der beiden im Raum stehenden Varianten war übrigens ein Deutscher der Gründer: Georg Hohermuth von Speyer, ein Adliger, später Statthalter im nicht weit enfernten Venezuela. Er stand in Diensten des Habsburgers Karl V., der zu dieser Zeit in Personalunion deutscher Kaiser und spanischer König war – in dessen Reich sprichwörtlich „nie die Sonne unterging“.

Parque Principal mit der Pfarrkirche Nuestra Señora del Rosario
…die auch von innen sehenswert ist

Wie die historischen Gebäude von El Cocuy in früheren Zeiten ausgesehen haben, wissen wir nicht – doch heute hat das Ortsbild im gesamten Zentrum einen sehr charmanten, aber ungewöhnlich einheitlichen Charakter. Alle Fassaden sind weiß, Sockel und Türen meergrün gestrichen – vor etwa 30 Jahren hat die Gemeinde den Beschluss gefasst, dem Ort so ein unverwechselbares Aussehen zu geben. Und damit die Harmonie des Ortsbildes gewahrt bleibt, sind alle Bewohner verpflichtet, den Anstrich alljährlich (!) im November zu erneuern. Ob die nötige Farbe von der Gemeinde zur Verfügung gestellt wird, haben wir leider nicht in Erfahrung gebracht…

Hier ist wirklich alles einheitlich!