Medellín.

Es ist eine achteinhalbstündige Fahrt, die wir am Donnerstag von Bucaramanga ins knapp 400 Kilometer südwestlich gelegene Medellín zu absolvieren haben – durch verschiedene Klimazonen, wie das hier in Kolumbien üblich ist: Aus der östlichen Andenkette zunächst hinunter in eine breite Flussebene, durchzogen vom mächtigen Río Magdalena, in der es tropisch heiß ist, und danach wieder hoch in die Berge der Zentralanden, wo wir schließlich Kolumbiens zweitgrößte Stadt erreichen. Die 2,4 Millionen Einwohner zählende Metropole des Departements Antioquia liegt auf etwa 1.540 Metern im Aburrá-Tal, umgeben von bewaldeten Bergen und durchzogen vom Río Medellín. Das Klima hier ist perfekt – wegen der gleichbleibend angenehmen Temperaturen trägt der Ort auch den Beinamen Stadt des ewigen Frühlings.

In wunderschöner grüner Berglandschaft im Aburrá-Tal gelegen: Medellín

Wir kommen am Terminal Norte an – die besten Wohngegenden der Stadt liegen jedoch im Süden, dort haben wir im Stadtviertel El Poblado für drei Nächte ein Zimmer im Kolor Hotel Boutique gebucht. Das soll recht versteckt liegen und vielen Taxistas nicht bekannt sein; doch als wir ins Taxi einsteigen und ihm unser gewünschtes Ziel erklären wollen, nickt der Fahrer wissend… okay, alles klar! Aus Deutschland kommen wir? Herzlichen Glückwunsch, euere Nationalmannschaft hat gerade 4:1 gegen Mexiko gewonnen! So werden wir also gleich auf den neuesten Stand gebracht – und beim Einchecken im Hotel sowie am nächsten Tag von einem anderen Taxifahrer noch zweimal auf das Ergebnis im Halbfinale des Confederation-Cups angesprochen. Tja, Fußball ist in Kolumbien stets ein großes Thema und Deutschland sowieso beliebt…

Und dass das Thema Fußball selbst im Museo Casa de la Memoria eine, wenn auch traurige, Rolle spielt, erfahren wir, als wir am Freitag dort unsere Erkundung von Medellín beginnen. Das 2011 eröffnete Museum hat es sich zur Aufgabe gemacht, an die Zeiten zu erinnern, in denen nicht nur die Stadt, sondern ganz Kolumbien jahrzehntelang in einem Teufelskreis von Gewalt versank, den unterschiedlichste Gruppierungen immer wieder befeuerten – linke Rebellenorganisationen und rechte Paramilitärs, dazu ab den späten 1970er Jahren kriminelle Drogenbanden. Das sogenannte Medellín-Kartell, dessen bekanntester Vertreter der 1993 getötete Pablo Escobar war, war in seiner mächtigsten Zeit für einen Großteil – man spricht von bis zu 80 Prozent – des weltweiten Kokainhandels verantwortlich. Gerade die Armenviertel im Norden der Stadt wurden von den Drogengangs kontrolliert. Jugendliche aus diesen Barrios wurden serienweise zu Auftragskillern erzogen; Medellín war die Stadt mit der höchsten Mordrate der Welt.

Erinnerung an die Schrecken der Gewalt im Museo Casa de la Memoria

Menschenleben galten hier nichts – ein Fall aus dem Jahr 1994 ist vielen Fußballinteressierten noch in schrecklicher Erinnerung: Der kolumbianische Nationalspieler Andrés Escobar, dem im WM-Vorrundenspiel gegen die USA ein spielentscheidendes Eigentor unterlaufen war, wurde wenige Tage später in seiner Heimatstadt Medellín erschossen. Die Gründe dafür sind bis heute nicht restlos aufgedeckt; der Mörder wurde wegen guter Führung schon vor langer Zeit wieder aus der Haft entlassen.

Dunkle Zeiten in Medellín

Das Museum gibt aber nicht nur prominenten Opfern, sondern auch zahlreichen unbekannten Toten und Verschwundenen ein Gesicht und fordert zum Nachdenken darüber auf, wie Menschen sich gegenseitig das Leben im wahrsten Sinne des Wortes zur Hölle machen können. Eine Hölle, aus der sich Medellín erst in den letzten 15 Jahren wirklich befreien konnte; eine Zeit, die das Gesicht und den Ruf der Stadt aber bereits nachhaltig verändert hat.

Der Drogenboss Pablo Escobar spielt in Medellín allerdings auch 24 Jahre nach seinem Tod noch eine wichtige Rolle im Leben der Stadt: Bei vielen ist er nach wie vor als Hauptschuldiger am gewaltsamen Sterben von Freunden und Angehörigen verhasst, in einigen Armenvierteln, in denen er angeblich über 400 Häuser für die Bewohner bauen ließ, wird er weiterhin wie ein moderner Robin Hood verehrt.

Es werden eine Reihe von Stadttouren auf den Spuren des Drogenbarons angeboten; wir verzichten jedoch ganz bewusst darauf, daran teilzunehmen, weil wir nicht einmal als neugierige Besucher an der Glorifizierung dieses Verbrechers beteiligt sein wollen, und melden uns stattdessen für eine vierstündige Free Walking Tour an, die am Samstagvormittag um zehn Uhr am Rande der Innenstadt beginnt. Das Konzept dieser Stadtrundgänge – wir haben in Mexiko schon einmal an einer teilgenommen – ist weltweit gleich: Man zahlt keine feste Gebühr, sondern gibt am Ende der Tour einen Betrag, der einem angemessen erscheint.

Aus aller Herren Länder: unsere Walking-Tour-Gruppe

Um zum Treffpunkt zu gelangen, müssen wir zu einer bestimmten Metro-Station fahren – Medellín verfügt über ein sehr modernes, vorbildlich ausgebautes Nahverkehrsnetz, das 1995 in Betrieb ging und seitdem kontinuierlich erweitert wurde. Gerade die Armenviertel profitierten enorm von diesem Infrastrukturprojekt, da sie dadurch wesentlich besser an die Stadt angeschlossen wurden – inzwischen führen sogar Seilbahnen und die längste Rolltreppe der Welt, die allesamt Teil der städtischen Verkehrsbetriebe sind, in die Barrios im Norden Medellíns. Zugleich wurden dort auch verschiedene öffentliche Bibliotheken aufgebaut, die der Bevölkerung kostenlosen Zugang zu Büchern, guten Filmen und Internet bieten – ein Bildungs- und Erziehungsprojekt, das wohl tatsächlich nachhaltige Veränderungen bewirkt hat.

Medellíns modernes Metro-Netz…
…findet seine nahtlose Fortsetzung in den Metrocables (Seilbahnen), die in Armenviertel führen

Die ausführliche Tour wird zu einem hochinteressanten Spaziergang durch die facettenreiche Geschichte einer Metropole, die mit Macht dem bleischwer auf ihr lastenden schlechten Ruf entkommen möchte, den die jüngste Vergangenheit ihr weltweit eingebracht hat. „Willkommen in Medellín, der Stadt, vor der euch euere Eltern gewarnt haben!“ begrüßt die engagierte, kenntnisreiche und temperamentvolle Stadtführerin Mari unsere aus verschiedensten Ländern bunt zusammengewürfelte Gruppe, in der wir die ältesten Teilnehmer sind – tatsächlich ist es so, dass überwiegend junge Touristen hierher kommen; sie können der Stadt ganz offensichtlich unbefangener gegenübertreten als unsere Generation oder noch Ältere. Am Ende der Tour verabschiedet uns Mari denn auch mit einem Dank, dass wir Medellín besucht haben und mit der Bitte, daheim zu erzählen, dass sich hier mittlerweile sehr viel geändert hat.

Rundgang durch die betriebsame Innenstadt

Eine Stadt, die sicher keine klassische, mit historischen Bauwerken gespickte Schönheit ist – das liegt daran, dass sie lange Zeit nur eine unbedeutende Provinzstadt war, ehe Gold und Kaffee aus der umgebenden Region ab den 1880er Jahren Medellín zu einer bedeutenden Industrie- und Handelsmetropole heranwachsen ließen, deren Einwohner entsprechendes Selbstbewusstsein und großen Lokalpatriotismus entwickelten – Werke wie die Skulptur Monumento de la Raza vor dem Gebäude der Departementsregierung, die die Geschichte der Paisas (so nennen sich die Einwohner Medellíns selbst) verherrlichen, legen davon Zeugnis ab.

Das Monumento de la Raza erzählt die Geschichte Antioquias

Die Waren mussten von hier in die weit entfernten Hafenstädte gebracht werden; einer der Gründe für den Bau von Eisenbahnlinien, an die heute nur noch der sehr schön restaurierte Bahnhof erinnert. Der Zugbetrieb wurde bereits 1980 eingestellt – Mari nennt als Grund dafür eine „typisch lateinamerikanische Krankheit“: Missmanagement.

Der liebevoll restaurierte ehemalige Hauptbahnhof

Doch gerade die Entwicklung Medellíns in den letzten eineinhalb Jahrzehnten zeigt, dass auch in Südamerika gutes Regieren möglich ist und viel Positives bewirken kann. Ein abgebranntes, zu einem Hort der Kriminalität verkommenes ehemaliges Marktgelände wurde komplett umgestaltet und ist heute als Parque de la Luz mit zahllosen schlanken Metallstangen, die den Platz nachts in hoffnungsvolles Licht tauchen, ein Symbol des Wandels der Stadt geworden – genau wie zwei nebenan befindliche Backsteinbauten, die Edificios Vasquéz y Barré. Noch vor 20 Jahren waren sie in ruinösem Zustand und von Obdachlosen und Verbrechern in Beschlag genommen, inzwischen ist eines der Gebäude Sitz der Städtischen Erziehungsbehörde.

Ein ehemaliges Zentrum des Verbrechens wurde zu einem Platz der Hoffnung: Parque de la Luz
Früher ein Tummelplatz für Kriminelle – heute die Secretaría de Educación de Medellín

Symbole der Transformation der Stadt – genau wie die beiden nebeneinander stehenden Skulpturen mit dem Namen Pájaro de Paz (Friedensvogel), die sich im Parque San Antonio befinden. Geschaffen wurden sie vom weltweit bekannten, in Medellín geborenen Künstler Fernando Botero. Eigentlich war es nur ein Vogel, den der Bildhauer 1994 auf dem großen, unter anderem für Open-Air-Konzerte genutzten Platz aufgestellt hatte. Doch ein Jahr später wurde direkt unter der Skulptur eine Bombe platziert, die während eines Musikkonzertes detonierte und 23 Menschen das Leben kostete. Das Kunstwerk wurde dabei natürlich ebenfalls schwer beschädigt; Botero beschwor aber noch in der Nacht des Attentats den Bürgermeister, die Skulptur so zu belassen und fertigte eine Replik an, die nun neben dem zerstörten Original steht – als Sinnbild für eine hellere, friedlichere Zukunft.

Zerstörter Pájaro de Paz mit den Namen der beim Anschlag 1995 Getöteten

Botero, dessen Werke auch in vielen europäischen Städten zu sehen sind (der inzwischen 85-Jährige ist auch Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste) hat seiner Heimatstadt noch an vielen anderen Plätzen Werke gestiftet – am auffälligsten und unübersehbarsten auf einem Platz zwischen dem Museo de Antioquia und dem vom belgischen Architekten Agustín Goovaerts entworfenen Palacio de la Cultura Rafael Uribe Uribe. Sogar völlige Laien erkennen schnell den unverwechselbaren Stil der Plastiken von Botero: Der Künstler gestaltet vornehmlich überdimensionale menschliche Figuren, deren Proportionen verzerrt wirken und vor allem eines sind – richtig dick. Üppige Kurven und Rundungen kennzeichnen das Schönheitsideal Boteros, das in seinen Figuren überdeutlich zum Ausdruck kommt.

Boteros typische Figuren…
…mit ausladenden Formen
Vom Belgier Goovaerts begonnen (links), von Einheimischen vereinfacht fertiggestellt: Der Palacio de la Cultura Rafael Uribe Uribe

Einem anderen berühmten Künstler, dem Tangosänger Carlos Gardel, begegnen wir in Medellín ebenfalls wieder. In Uruguay, dem vermeintlichen Geburtsland, hatten wir sein Leben und Werk bereits vor über vier Monaten kennengelernt; nun begegnen wir seinem Konterfei auf verschiedenen Schautafeln in der Fußgängerzone – die Stadt hat für Gardel, der hier 1935 bei einem Flugzeugunglück starb, ein Museo en la Calle (Museum auf der Straße) eingerichtet. Eine Tragödie, die im November 2016 schlagartig auf furchtbare Weise wieder Aktualität erlangte: Auf dem Hinflug zum Endspiel der Copa Sudamericana gegen Atletico Nacional Medellín stürzte das Flugzeug mit der brasilianischen Mannschaft Chapecoense ebenfalls nahe des hiesigen Flughafens ab; der Großteil der Mannschaft ließ dabei das Leben.

Museo en la Calle als Erinnerung an Tangosänger Carlos Gardel

Die Innenstadt von Medellín ist richtig wuselig. Menschenmassen drängen sich durch die Einkaufsstraßen, in denen es neben normalen Läden unzählige Stände und fliegende Händler gibt. Doch auch ein echter Einkaufspalast ist hier zu finden: Der Palacio Nacional, ebenfalls ein Goovaerts-Bau, beherbergt heute zahlreiche Läden, in denen vor allem Kleidung gekauft werden kann – zum Teil fast direkt vom Hersteller, denn in Medellín gibt es noch einige Textilfabriken, die der Konkurrenz aus Asien erfolgreich Paroli bieten.

Schöner Einkaufen im Palacio Nacional

Bauwerke aus vergangenen Jahrhunderten gibt es in Medellín nur wenige. Einige Kirchen sind da die spärlichen Ausnahmen, an erster Stelle die Basílica Nuestra Señora de la Candelaria am zentralen Parque de Berrío. Sie entstand in den Jahren 1768 bis 1776 in neoklassischem Stil. Nur wenig jünger ist die zwei Straßenzüge entfernte Iglesia de la Veracruz. Der spätbarocke Bau geht auf den Zeitraum von 1791 bis 1803 zurück.

Spärliche Zeugen kolonialer Zeiten: Basílica Nuestra Señora de la Candelaria
…und Iglesia de la Veracruz

Medellíns bedeutendster Sakralbau ist allerdings jüngeren Datums: Die Catedral Basílica de Nuestra Señora de la Inmaculada Concepción wurde erst 1930 geweiht und gilt als größter Lehmziegelbau der Welt. Die Orgel der Kathedrale stammt aus Ludwigsburg – erst vor wenigen Jahren wurde sie mit Unterstützung der Bundesregierung von einer deutschen Orgelbauwerkstatt restauriert. Der Parque Bolívar, an dem sich die Kathedrale befindet, ist während unseres Besuchs äußerst belebt – wie an jedem ersten Samstag im Monat findet hier ein großer Kunsthandwerksmarkt statt. Hier lässt uns Mari zehn Minuten Zeit zum Herumstöbern – „aber nicht zehn kolumbianische, sondern zehn deutsche Minuten!“ schärft sie der internationalen Truppe ein. Deutsche Pünktlichkeit ist also selbst in Medellín ein Begriff…

Viel Betrieb im Parque Bolívar vor der Kathedrale

Wenn einem der Trubel in Medellíns Innenstadt zu viel wird, reicht es, drei Stationen mit der Metro zu fahren, und schon ist man am Jardín Botanico Joaquín Antonio Uribe angekommen. Der wunderschöne Botanische Garten, unter anderem mit einem umfangreichen Palmengarten ausgestattet, der 120 verschiedene Arten zeigt, ist eine kostenlos zu betretende Oase der Ruhe in der Millionenstadt und wie eine Reihe von Parks in der Stadt ein Beleg dafür, dass Medellín auch als Blumenstadt gilt. In der Region gibt es nämlich sehr viele Gärtnereien, die Blumen auch für den Export züchten. Kolumbien ist nach den Niederlanden weltweit zweitgrößter Schnittblumenproduzent!

Erholung von der Großstadthektik…
…im Jardín Botanico Joaquín Antonio Uribe

Und sind wir zurück im Stadtviertel El Poblado, in unserem idyllischen kleinen Hotel, dann scheint die Hektik der Innenstadt ohnehin meilenweit entfernt. Hier gibt es vornehme Restaurants und trendige Kneipen in westlichem Stil, die Wohnviertel sind sauber und gepflegt – wie schon in Bogotá oder zuletzt in Bucaramanga sticht der Unterschied zwischen den Wohngegenden der Wohlhabenden und der Armen auch hier wieder krass ins Auge…

El Poblados Zentrum rund um die Iglesia San José