San Agustín.
Die Fahrt mit dem Kleinbus von Popayán nach San Agustín wird zu einer der abenteuerlichsten unserer mittlerweile elfmonatigen Reise. Und das aus mehreren Gründen: Für die nur 135 Kilometer lange Strecke benötigen wir gut fünf Stunden, weil sie über eine zu großen Teilen extrem schlechten, schlammigen, mit Schlaglöchern und Steinen übersäten Piste führt, die über unzählige Serpentinen bis auf über 3.500 Meter durchs Páramo des Parque Nacional Natural de Puracé geht. Eigentlich kein Wunder, wenn da mal eine Reifenpanne passiert – unser Fahrer muss die Zwangspause aber schon vor dem schwierigsten Teilabschnitt einlegen. Der Dorfmechaniker von Coconuco führt die Reparatur durch, doch kurz hinter dem Ort beschleicht uns das Gefühl, die Fahrt könnte eh jeden Moment vorbei sein: Zunächst stehen mehrere Hundertschaften Polizei, bewaffnet bis auf die Zähne und in Schutzkleidung, aus der nur noch die Augen herausschauen, am Straßenrand, auf sie folgen noch viel mehr Indigene, die ebenfalls den Straßenrand säumen. Viele mit Stöcken in der Hand – was geht hier los? Unser Fahrer bleibt cool und fährt in gleichmäßig langsamem Tempo weiter. Erst später erfahren wir die Details: In der Region gibt es seit Jahrzehnten Konflikte zwischen reichen Großgrundbesitzern, die damals – mit welchen Mitteln auch immer – Landrechte für ausgedehnte Gebiete hier im Hochland erhielten, und der seit jeher ansässigen indigenen Bevölkerung, die das Land zurückhaben will. Es gibt inzwischen auch Gerichtsurteile, nach denen die Ländereien an die Einheimischen zurückgegeben werden müssen – doch dies erfolgt, wenn überhaupt, nur tröpfchenweise. Was dazu führt, dass die Indigenen immer mal wieder versuchen, Straßen zu blockieren, um auf diese Weise auf sich aufmerksam zu machen und Druck auf die Politik auszuüben, die diesem Thema wenig Beachtung schenkt. Lange Jahre wurden sie von den linken Guerillabewegungen wie FARC und ELN unterstützt; der Friedensprozess im Land hat jedoch dazu geführt, dass diese Hilfe nun ausbleibt. Ob direkt hier an der Straße oder in einem anderen Teil des Nationalparks, wissen wir nicht; jedenfalls sehen wir am Tag darauf in den Fernsehnachrichten, dass es irgendwo im Nationalpark Puracé 30 Verletzte bei gewalttätigen Auseinandersetzungen gegeben hat.
Da sind wir jedoch schon längst im Hotel Casa de Nelly angekommen, eigentlich eher ein Hostel, etwas außerhalb des Ortes auf einem Hügel im Wald gelegen, wunderschön ruhig und mit außerordentlich freundlichem Personal. Wir kommen in einer kleinen Cabaña unter, werden vom sehr gut deutsch sprechenden Geschäftsführer Harry mit allen gewünschten Informationen versorgt, und abends wird für alle Gäste, die das wünschen, leckeres Essen gekocht und an einem großen Tisch gemeinsam gegessen. Dadurch kommt viel Kommunikation zustande, und wir lernen mal wieder eine Menge neue Leute kennen.


San Agustín, eine auf gut 1.600 Metern im Departement Huila gelegene Kleinstadt mit gut 30.000 Einwohnern, ist mittlerweile ein beliebtes Touristenziel geworden. Der geschäftige Ort selbst ist nicht unbedingt besonders sehenswert – doch einen ersten Eindruck von seiner größten Attraktion bekommt man bereits, wenn man über den zentralen Parque Simón Bolívar läuft. Hier sind einige große Skulpturen aus Stein aufgestellt, die mit ihrem Aussehen entfernt an die mächtigen Statuen erinnern, durch die die Osterinseln berühmt geworden sind.


Sie verweisen auf die zahlreichen Ausgrabungen in der Umgebung, die der Öffentlichkeit in verschiedenen archäologischen Parks zugänglich gemacht wurden – die Völker, die diese Zeugnisse ihrer Existenz hinterlassen haben, sind namentlich nicht bekannt; die ältesten Funde reichen bis ins vierte vorchristliche Jahrtausend zurück. Sie sind in ihrer Form auf dem amerikanischen Kontinent einzigartig und deswegen auch schon seit 1995 als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt.

Der größte archäologische Park liegt gleich außerhalb von San Agustín. Er gliedert sich in mehrere Bereiche, in denen die Wissenschaftler bei umfangreichen Ausgrabungen eine große Zahl von Statuen, Megalithtempeln und Schachtgräbern freigelegt und konserviert haben. Einer der ersten war übrigens der Deutsche Konrad Theodor Preuss, der hier schon vor über hundert Jahren arbeitete und eine ganze Reihe von Fundstücken mit nach Deutschland nahm, wo sie bis heute zum Bestand des Ethnologischen Museums Berlin gehören.




Neben vier sogenannten Mesitas – Plätzen, an denen jeweils mehrere Gräber und Statuen gefunden wurden – befindet sich im Parque Arqueológico San Agustín auch ein Wasserheiligtum, die Fuente Ceremonial de Lavapatas. Hier, an einem kleinen Fluss, wurden in die dort liegenden Steine mehrere Reliefs eingraviert. Zudem schlugen die Steinmetze kleine Kanäle und Becken aus dem Fels heraus – es liegt nahe, dass hier rituelle Waschungen stattgefunden haben und Wassergöttern gehuldigt wurde.


Bergauf führt von hier ein Pfad zum Alto de Lavapatas. Er ist die älteste Fundstätte San Agustíns; außer einigen von Statuen bewachten Gräbern ist der wunderbare Ausblick über die grüne Berglandschaft Südkolumbiens ein Grund, diesen am weitesten entfernten Punkt des archäologischen Parks aufzusuchen.


Besonders interessant ist zudem ein Spaziergang durch den nahe des kleinen Museums angelegten Bosque de las Estatuas. Dieser etwa 800 Meter lange Rundgang mitten durch den üppigen tropischen Wald bietet die Gelegenheit, gleich 39 meist sehr gut erhaltene Statuen, jede individuell gestaltet, zu besichtigen. Viele von ihnen waren lange einfach irgendwo im Ort, zum Teil in den Vorgärten von Privathäusern, aufgestellt gewesen.




Doch in der unmittelbaren Umgebung von San Agustín gibt es noch mehr Fundstätten. Zwei von ihnen besuchen wir am Nachmittag bei einer kleinen Wanderung. El Tablón zeigt ähnliche, von Statuen bewachte Gräber, wie wir sie bereits zuvor gesehen haben, doch der Spaziergang zur etwa eine Stunde entfernten Formation La Chaquira ist wirklich lohnenswert. Hier kann man nicht nur eine tiefe Schlucht bewundern, durch die Kolumbiens größter Fluss, der hier noch wilde Gebirgsbach Río Magdalena, rauscht, sondern auch eine in die Landschaft gewürfelte Gruppe von Vulkansteinen, von denen einige mit beeindruckenden menschlichen Gesichtszügen ausgestattet wurden.




Diese und noch einige weitere vorgeschichtliche Plätze können auch mit Pferden erkundet werden. Doch erstens haben wir ein paar davon ohnehin schon erwandert, zweitens bin ich – ohne Erfahrung mit Huftieren – nicht gerade begeistert von dieser Art des Ausflugs, und drittens gibt es zudem die Möglichkeit, einige weiter entfernte Sehenswürdigkeiten im Rahmen einer ganztägigen Jeeptour zu besuchen. Wir entscheiden uns dafür, werden am Freitagmorgen kurz vor neun Uhr an unserer Unterkunft abgeholt und machen uns schließlich mit einer siebenköpfigen Gruppe, darunter ein norwegisches Pärchen, das schon mit uns zusammen von Popayán angereist ist, auf den Weg. Und der führt uns zunächst wieder an den Río Magdalena: An einer Engstelle, spanisch Estrecho, muss sich der Fluss seinen Weg durch einen nur gut zwei Meter breiten Durchlass zwischen mächtigen Felsen bahnen, um anschließend seinen Lauf in einer 90-Grad-Kurve fortzusetzen. Eine wilde, beeindruckende Landschaft!



Nächster Halt ist in dem kleinen Dorf Obando. Hier befindet sich ein kleiner privater Parque Arqueológico mit angeschlossenem Museum, der einige mitten im Dorf gefundene Gräber zeigt und Aufschluss über die Kultur und Lebensweise der Ureinwohner gibt, soweit dies aufgrund der Ausgrabungsfunde möglich ist – schriftliche Zeugnisse haben diese Völker nicht hinterlassen.


Hinter Obando wird die bis dahin noch einigermaßen ordentlich befahrbare Straße zu einer üblen Rüttelpiste, zudem immer wieder von Baustellen unterbrochen – den am Straßenrand zu lesenden Schildern zufolge soll diese touristische Route verbessert werden. Wäre dringendst notwendig… So dauert es ziemlich lange, bis wir das nahe Isnos gelegene, zum großen Parkkomplex gehörende Ausgrabungsfeld Alto de los Ídolos erreichen. Hier befinden sich, locker über die Hügel verteilt, insgesamt sieben verschiedene Grabstätten und zahlreiche Steinfiguren, darunter die größte des gesamten Gebiets mit einer Gesamthöhe von sieben Metern, wovon allerdings nur vier Meter aus dem Boden herausragen – dennoch eine imposante Erscheinung!




Nach einer Mittagspause in Isnos nimmt unser Fahrer Gustavo eine weitere heftige Piste in Angriff – diesmal sogar hin und zurück, denn Endpunkt der Route ist eine Aussichtsterrasse, von der aus ein toller Blick auf den höchsten Wasserfall des Landes möglich ist – der Salto de Bordones stürzt in dieser bereits zum Parque Nacional Natural Puracé gehörenden Region etwa 400 Meter tief aus den Bergen in eine Schlucht und fließt anschließend unter dem Namen Río Bordones weiter talwärts.


Auf dem Rückweg Richtung Isnos besuchen wir nochmals eine archäologische Zone: den Alto de los Piedras, der neben den nun bereits bekannten Grabstätten, an denen hier noch leichte Spuren ihrer ehemaligen roten, schwarzen und gelben Bemalung erkennbar sind, zwei besonders auffällige Statuen zu bieten hat. Zum einen den Doble Yo, das Doppelte Ich, mit zwei übereinander angeordneten menschlichen Figuren, zu der sich auf der Rückseite noch eine dritte gesellt (die in einem Reiseführer erwähnte vierte Figur können wir nicht finden), zum anderen eine schwangere Frau.


Letzter Stopp auf dieser sehr abwechslungsreichen, aber aufgrund der schlechten Straßen ziemlich anstrengenden Tour ist der schon wieder nahe bei San Agustín liegende Salto de Mortiño. Er ist mit 170 Metern weniger tief als der zuvor besuchte, doch der Ausblick ist hier, auf dem Gelände eines Bauernhofs, der für den Zugang ein wenig Eintritt kassiert, dafür aber eine kleine Aussichtsplattform errichtet hat, noch besser.

Müde, aber zufrieden, kehren wir ins Casa de Nelly zurück – wo man uns mitteilt, dass der Strom schon seit Stunden weg ist. Ein Baum ist in die Leitung gefallen, die hierher führt; und der Schaden wird auch erst morgen Vormittag behoben. Also gibt es einen romantischen letzten Abend bei schummrigem Kerzenlicht; doch dank des Gasherds ist das Fischgericht, das auf den Tisch kommt, gewohnt lecker…