Tirana.
Man kann nicht unbedingt behaupten, dass der Start in unsere Pfingstreise 2018 so richtig entspannt gewesen wäre: Statt, wie eigentlich vorgesehen, am Samstagnachmittag mit einem Direktflug anzureisen, beginnt unser Albanien-Trip bereits zu nachtschlafender Zeit. Die slowenische Fluggesellschaft Adria Airways hatte sich bereits vor gut einem Monat bei uns gemeldet und uns mitgeteilt, dass der Hinflug umgebucht werden müsse. Begründung: Für die Verbindung München – Tirana werde eine kleinere Maschine als ursprünglich geplant eingesetzt. Was uns einen Flug mit Austrian Airlines beschert, der um 8.15 Uhr in München abhebt und uns erst einmal nach Wien bringt. Dort müssen wir gut drei Stunden Zwischenaufenthalt überbrücken, ehe wir in einen Airbus 320 der österreichischen Fluggesellschaft einsteigen dürfen, der nach etwa 75-minütigem Flug quer über die Balkanhalbinsel an dem 17 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums gelegenen, recht kleinen und übersichtlichen Tirana International Airport Nënë Tereza landet.
Nachdem Passkontrolle, Geldautomat und Gepäckband erledigt sind, müssen wir zuerst einmal den Transport zu unserer im Stadtzentrum gelegenen Unterkunft, der Vila 15, organisieren. Schnell stellen wir fest, dass das mit einem Linienbus, wenn überhaupt, nur sehr schwierig zu realisieren ist – so ganz genau wissen wir nämlich nicht, wo wir hinmüssen; und mit unseren großen Rucksäcken wollen wir nicht unbedingt ziellos durch die Gegend laufen. Also entscheiden wir uns für ein Taxi. Das bringt uns zuverlässig an den gewünschten Ort; der Fahrer versucht radebrechend mit ein paar Brocken Englisch eine Unterhaltung, die in erster Linie daraus besteht, uns zu versichern, dass Deutschland „Nummer eins“ und super in allen Belangen ist. Was den Kameraden nicht daran hindert, am Ende das Trinkgeld per Wechselgeld erst einmal äußerst großzügig zu seinen Gunsten aufzurunden. Als er dann, bereits wieder losgefahren, im Rückspiegel sieht, wie wir die für uns noch ungewohnten albanischen Lek-Scheine zweifelnd und ungläubig anschauen, plagt ihn aber scheinbar das schlechte Gewissen. Er hält noch mal an und gibt uns etwas mehr zurück – es bleibt auch so noch genug für ihn übrig, aber irgendwie ist das ja schon wieder sympathisch…
Nachdem wir uns ein wenig ausgeruht haben, starten wir am späten Nachmittag zu einer ersten kleinen Stadterkundung – ohne groß auf den Plan zu schauen, wir wollen erst einmal ankommen hier in der albanischen Hauptstadt. Da ist es nicht schlecht, dass die Vila 15, ein leuchtend gelb gestrichenes Herrenhaus, hinter dessen altehrwürdiger Fassade sich zwar einfache, aber durchaus wohnliche Räume befinden, sehr nahe am Stadtzentrum liegt.

Der Weg dorthin führt uns schon nach wenigen Metern über eine geschwungene, jahrhundertealte Steinbrücke, die heutzutage aber keinen Flusslauf mehr überbrückt: Die Ura e Tabakëve (Gerberbrücke) erinnert an die osmanische Herrschaft, während der hier Felle und Häute von Rindern, Schafen und Ziegen an der inzwischen begradigten Lana bearbeitet wurden.

Die wechselvolle Geschichte Albaniens, der dieses Land seine kulturelle Vielfalt verdankt, wird uns bereits auf den paar hundert Metern bis in den Rinia Park anschaulich vor Augen geführt: Da kommen wir zunächst an der erst 2018 eröffneten neuen Hauptmoschee, der Xhamia e Namzgjasë, vorbei, passieren kurz danach die ebenfalls sehr moderne Katedralja e Shën Palit (St. Pauls-Kathedrale), das wichtigste Gotteshaus der Katholiken Tiranas, und sehen während eines Café-Aufenthalts im Park bereits den Turm der Katedralja Ngjallja e Krishtit – die Kathedrale der Wiederauferstehung Christi wurde 2012 fertiggestellt und ist das Zentrum der hiesigen orthodoxen Kirche.

Allein diese drei religiösen Monumente erzählen so viel über das Land: die Lage an der Grenzlinie zwischen italienischem und griechischem Einflussgebiet, die spätere jahrhundertelange türkische Besatzung und die rigorose Bekämpfung aller Religionen während der kommunistischen Ära, die in der Deklaration des Landes als erstem atheistischem Staat der Welt gipfelte und die Zerstörung der meisten Kirchen und Moscheen zur Folge hatte.

Abgesehen davon, fallen uns bei unserem kleinen Rundgang eine ganze Reihe von Gegebenheiten auf, die uns stark an unser Reisejahr in Lateinamerika erinnern. Da gibt es fliegende Händler auf den Straßen, die den Autofahrern während der Rot-Phase an der Ampel Kleinigkeiten wie z. B. selbstgebrannte CDs verkaufen wollen. Alte Männer sitzen mit Personenwaagen am Straßenrand und hoffen auf Kundschaft, alte Frauen bieten Obst an, kleine Jungs versuchen Pflaster unters Volk zu bringen. Es gibt zahlreiche Kioske und Tante-Emma-Läden, die auch zu später Stunde noch geöffnet haben – und, wie wir tags darauf feststellen, auch sonntags. Ebenso haben wir die manchmal lockeren Pflastersteine und einige Löcher, die ohne nachvollziehbaren Grund in die Gehwege eingelassen sind, aus unzähligen Orten irgendwo zwischen Mexiko und Feuerland in lebhafter Erinnerung…
Erinnern – das ist in Albanien ein Begriff, der stark mit der von 1946 bis 1991 andauernden kommunistischen Diktatur verbunden ist, während der das Land sich sukzessive immer mehr vom Rest der Welt isolierte. Staats- und Parteichef Enver Hoxha misstraute, offenkundig unter dem tief sitzenden Schock der faschistischen Besatzung, der Albanien zwischen 1939 und 1944 durch italienische und später auch deutsche Truppen ausgesetzt war, allem und jedem: zunächst dem sozialistischen Nachbarn Jugoslawien, zu dem das Regime bereits 1948 die diplomatischen Beziehungen abbrach, später auch der Sowjetunion, zu der 1968 die Drähte endgültig gekappt wurden. Und als Hoxha schließlich zehn Jahre später, nach Maos Tod, auch die chinesische Spielart des Kommunismus als zu reformistisch betrachtete, war das kleine Balkanland völlig auf sich gestellt.
Und daran sollte weder von außen noch von innen gerüttelt werden können: Die Paranoia des Herrschers ging so weit, dass das Land mit sage und schreibe 700.000 Bunkern gegen feindliche Angriffe (die es nie gab) ausgestattet wurde und das eigene Volk, dem der Besitz privater Autos verboten war, von einer allmächtigen und skrupellosen Geheimpolizei überwacht wurde.

Die ausgedehnten Bunkeranlagen mitten im Stadtzentrum, direkt unter den Dienstgebäuden des Innenministeriums, erzählen diese düstere Vergangenheit seit November 2016 in einer ausgezeichneten, sehr ausführlichen Ausstellung unter dem Namen Bunk’Art 2 auf Albanisch und Englisch nach.


Gut zwei Stunden verbringen wir an diesem warmen, sonnigen Pfingstsonntag in den unheimlichen unterirdischen Gängen und Räumen und gewinnen dabei einen Einblick in eines der repressivsten und menschenverachtendsten Systeme des 20. Jahrhunderts, in seinen Auswüchsen und seiner Totalität eigentlich nur mit Nordkorea vergleichbar.

Was hier gezeigt wird, kann einen wahrlich schaudern lassen: Angefangen von den KZ-artigen Lagern der 1950er-Jahre, in denen Angehörige von ins Ausland geflüchteten Albanern unter grauenhaften Bedingungen vegetierten, über die Verbannung von als politisch unzuverlässig betrachteten Personen, die zudem häufig härteste Zwangsarbeit leisten mussten, in entgegengesetzte Landesteile bis hin zu furchtbaren Foltermethoden, die gegen unliebsame Subjekte (z. B. Geistliche oder kritische Intellektuelle) angewendet wurden – es entfaltet sich ein Panoptikum des Schreckens, das jeden treffen konnte, der das jahrzehntelange Zwangssystem nicht klaglos erdulden wollte.

Bisweilen trägt der Verfolgungswahn Hoxhas und seiner Getreuen beinahe komische Züge: Etwa, wenn man liest, dass laut einer Aussage des Parteichefs die „Grenzen der Volksrepublik Albanien für Feinde, Spione, Hippie-Touristen und andere Vagabunden“ versperrt waren. Um der Bevölkerung den Anblick westlich-dekadenter Langhaariger zu ersparen, wurden die wenigen, nach monatelanger Überprüfung mit einem Besuchervisum ausgestatteten Besucher am Flughafen erst einmal ganz genau auf ihre Frisur hin überprüft und bei Nichtgefallen sofort zu einem dort stationierten Friseur weitergeschickt, der dem Gast den albanischen Einheitsschnitt verpasste.

Danach wurde es für den Touristen aus der feindlichen Außenwelt richtig ernst, denn während seines Aufenthalts wurde er buchstäblich 24 Stunden am Tag überwacht. Die wenigen für ausländische Besucher zugelassenen Hotels waren allesamt verwanzt, sodass den Geheimdienstlern auch ja keine kritische Äußerung oder kein Spionageversuch entgehen konnte.

Sehr nachdenklich erreichen wir am Ende des Rundgangs wieder das Tageslicht – und kommen zum Glück recht schnell wieder auf andere Gedanken, denn am Sheshi Skënderbej, dem zentralen Skanderbeg-Platz, werden wir unvermittelt von einem Mann angesprochen, der uns einige geschichtliche Erklärungen gibt, sich dabei als Touristenführer entpuppt, uns aber keine Stadtführung aufdrängt, sondern – vor allem, als ich mich als Geschichte-Lehrer zu erkennen gebe – uns mit größter Begeisterung weitere umfangreiche Erläuterungen zu Land und Leuten vermittelt.

Dank Martin – so heißt der junge Mann, der uns gleich noch seine Handy-Nummer gibt (falls wir irgendwo in Albanien mal Rat und Hilfe brauchen, können wir ihn jederzeit anrufen) – erfahren wir auch mehr über den Platz, an dem wir uns gerade befinden: Namensgeber ist der große albanische Freiheitsheld Skanderbeg, der auf einem überdimensionalen Standbild hoch zu Ross dargestellt wird. Er vereinigte im 15. Jahrhundert im Kampf gegen die osmanische Herrschaft die bis dahin rivalisierenden albanischen Regionalfürsten des Nordens und des Südens; auf ihn geht auch der Doppeladler zurück, der bis heute die albanische Flagge ziert.

Die Gebäude rund um den riesigen Platz zeugen von den Herrschern der letzten 200 Jahre: Die E’them Bey-Moschee und der dahinterstehende Uhrturm Kulla e Sahatit erinnern an die osmanische Zeit, Rathaus und daran anschließende Regierungsgebäude sind während der italienischen Besatzungszeit entstanden, und der realsozialistische Stil spiegelt sich in den Monumentalgebäuden des Nationalhistorischen Museums und des Kulturpalasts wider.


Gegenüber Bildern, wie sie noch auf Postkarten zu sehen sind, ist der Skanderbeg-Platz kaum mehr wiederzuerkennen: Die langgezogene, grasbewachsene Fläche, um die herum der mehrspurige Verkehr brauste, gibt es seit 2016 nicht mehr. Die obere Hälfte des Areals ist mit Steinen, die aus allen Teilen des Landes herangeschafft wurden, gepflastert, und der untere Teil wird derzeit gerade zu einem schönen Park umgestaltet – Bäume aus ganz Europa sind bereits gepflanzt, tausende von Blumen und Sträuchern stehen bereit und werden demnächst die Umgestaltung des Platzes vollenden.

Tirana ist eine Stadt im Umbruch, das merkt man auch an anderen Ecken der Stadt. Die kleine, erst 1614 gegründete Marktstadt entwickelte sich erst im 20. Jahrhundert zur Metropole des Landes; die politischen Wirren haben zudem dafür gesorgt, dass nur wenige historische Bauwerke die Zeiten überdauert haben. Kurios dabei das Grabmal des islamischen Geistlichen Kaplan Pascha: Bei der Planung des modernen TID-Towers wurde das zierliche Oktagon zunächst ganz vergessen und dann dank einer kuppelartigen Auswölbung, die sich darüberspannt, doch gerettet.

Wir stoßen auf topmoderne Gebäude wie das luxuriöse Toptani Shopping Center, kommunistische Prestigebauwerke wie die Polytechnische Universität (der Platz davor ist mittlerweile nach der gebürtigen Albanerin Mutter Teresa benannt), den großzügigen Bungalow, in dem Enver Hoxha inmitten des vom Rest der Stadt einst hermetisch abgeriegelten Wohnviertels Blloku residierte, und fahren hinauf auf den Sky Tower, wo im 17. Stockwerk eines Hotelgebäudes eine Bar untergebracht ist, von der aus man dank eines Drehmechanismus in einer Stunde einen Rundblick über die gesamte Stadt erhält.





Eines der eigenartigsten Bauwerke der Stadt steht gleich neben dem Amtssitz des Ministerpräsidenten: Nach dem Tod Enver Hoxhas entwarf seine Tochter ein Museum für den langjährigen Machthaber in Form einer Pyramide. Der demokratische Umbruch wenige Jahre später führte dazu, dass das Bauwerk seinen eigentlichen Zweck verlor und mittlerweile einen ziemlich ruinösen Eindruck macht.

Als wir glauben, bereits alles Wichtige gesehen und erlebt zu haben, lesen wir in unserem Reiseführer, dass es eine Buslinie geben soll, die eine Runde durch die Stadt dreht und für ein gemütliches Sightseeing perfekt ist. Wir halten Ausschau danach, finden sie jedoch nicht. Als Jana einen Busbegleiter anspricht, ist auch der ratlos – meint dann aber: „Fahrt doch mit meiner Linie mit, da kommt ihr hinaus bis zu Bunk’Art 1!“ Sein Deutsch ist recht gut: Er hat zwei Jahre in Kiel gearbeitet und möchte auch gerne wieder nach Deutschland, wartet derzeit aber noch darauf, ob der Antrag auf ein Arbeitsvisum wieder genehmigt wird.

Bunk’Art 1 – das ist der Vorläufer des Geheimdienst-Museums, das wir heute bereits besucht haben. Es befindet sich ebenfalls in einem Bunker, allerdings am Stadtrand, und illustriert in Bild und Film die Geschichte Albaniens von der faschistischen Besatzungszeit bis zum Ende der kommunistischen Ära. Als wir dort oben ankommen, ist es allerdings bereits kurz vor 18 Uhr; um diese Zeit schließt das Museum. Was also tun? Gleich wieder in die Innenstadt zurückfahren? Wäre die naheliegendste Möglichkeit; doch dank Straßenschildern und unserem Reiseführer kriegen wir mit, dass in unmittelbarer Nähe die Seilbahn Dajti Ekspres startet.

Sie führt in 15 Minuten bis in 1.100 Meter Höhe hinauf auf den Hausberg der Hauptstadt, bietet die Gelegenheit zu einem kleinen Ausflug hinaus in die Natur, zu tollen Panoramen über die Stadt und weit hinaus aufs Land und zu einem gemütlichen Feierabendbier oben auf dem Berg – eine echte Überraschung am Ende eines abwechslungsreichen Tages.

Obwohl: ganz zu Ende ist dieser Tag ja noch gar nicht… Als wir zurück im Stadtzentrum sind, bekommen wir in der Abenddämmerung ein Rockkonzert auf dem Skanderbeg-Platz mit, der dafür eine tolle Kulisse bildet. Wer hätte es vorher gedacht – Tirana ist wirklich einen Besuch wert!
