Theth.
Albaniens Norden ist vor allem bekannt für seine wunderschönen Berglandschaften, die allerdings zum Großteil nur über sehr schwer befahrbare Strecken zu erreichen sind. Vergleichsweise einfach ist noch ein Tagesausflug zum Koman-Stausee, zu dem wir am Mittwochmorgen von Shkodra aus aufbrechen. Bep, unser unglaublich freundlicher und hilfsbereiter Gastgeber in Shkodra, hat sich sofort das Handy geschnappt und uns zwei Plätze für eine Tour organisiert, als wir am Vorabend den Wunsch geäußert haben, dorthin zu fahren. Unkomplizierter, wenn auch geringfügig teurer als mit dem eigenen Wagen, ist es nämlich, sich von einem Veranstalter dorthin kutschieren zu lassen.
Nun sitzen wir in einem Kleinbus, der uns frühmorgens um halb sieben Uhr an unserer Unterkunft abgeholt hat und uns zusammen mit einigen anderen Touristengruppen nach Osten, das Tal des Drin aufwärts, bringt. Bald hinter Shkodra wird die Landschaft bergig; unterwegs passieren wir den ersten von drei langgestreckten künstlichen Seen, zu dem der Fluss in den 80er Jahren für die Stromgewinnung aufgestaut wurde. Bereits der Vau i Dejes bietet bei der Vorbeifahrt wunderschöne Panoramen.



Herausgelassen werden wir von dem wortkargen jungen Fahrer allerdings erst in Koman – einem kleinen Ort, bei dem sich die zweite Staumauer befindet, die den Liqeni i Komanit, also den Koman-See, zum Tal hin abgrenzt und gleichzeitig das größte Elektrizitätswerk Albaniens beherbergt. Hier gibt es am Seeufer einen Kai, an dem mehrere Boote vor sich hindümpeln. Eine größere Gruppe polnischer Traveller aus unserem Bus steuert zielstrebig auf die Autofähre zu; müssen wir auch da drauf? Da fragt uns jemand, ob wir einen Tagesausflug machen oder nach Fierza wollen – den Ort am östlichen Ende des Stausees, von wo aus die Straße in den Nordosten des Landes und Richtung Kosovo weiterführt. Als Tagesausflügler werden wir auf ein kleineres Boot dirigiert, das dann gegen neun Uhr ablegt und uns anschließend etwa eineinhalb Stunden durch eine großartige fjordartige Schlucht schippert.


Die Landschaft ist wirklich fantastisch; nicht umsonst wird dieser Ausflug – oder die Fährfahrt – als einer der Höhepunkte jeder Albanien-Reise bezeichnet. Was für die Touristen ein entspannter Tagesausflug ist, ist für die wenigen Menschen, die hier leben, oft mühseliger Alltag: Ihre Häuser sind nur per Boot und oft über steile Pfade erreichbar. Allerdings können wir vor einer Tatsache nicht die Augen verschließen: Der See ist an einigen Stellen, vor allem dort, wo sich kleine Ansiedlungen in Ufernähe befinden, stark vermüllt. Vor allem Plastikflaschen schwimmen massenweise herum und stören natürlich nicht nur das idyllische Bild, sondern sind ein erhebliches Umweltproblem.





Unweit der kleinen Insel Paqe, die sich aus dem langgestreckten See erhebt, legt unser Boot an. Wir laufen einen Hügel hinauf bis zu einem größeren Anwesen: Hier oben, zur Streusiedlung Svina gehörend, befindet sich das Hostel Ferry Berisha – ursprünglich nicht mehr als der bescheidene Bauernhof einer einsam in der Bergwelt lebenden Familie, das inzwischen jedoch zu einer Pension mit Gaststättenbetrieb erweitert wurde. Wie wir erfahren, ist der Besitzer auch der Eigentümer des Bootes, mit dem wir hierhergefahren sind, und der Fähre, die auf dem See hin- und herpendelt; eine sehr rührige, geschäftstüchtige Familie also, die aber ihre natürliche Gastfreundschaft deswegen in keinster Weise eingebüßt hat.



Damit die gut zwei Stunden bis zum Mittagessen und zur Rückfahrt sinnvoll überbrückt werden können, werden uns drei Optionen angeboten: eine Rundfahrt mit dem Schiff, eine Wanderung oder eine Kajak-Tour. Mit uns sind fünf junge Engländer hierhergekommen; sie entscheiden sich spontan fürs Kajak – also gut, dann schließen wir uns eben an, auch wenn wir das noch nie gemacht haben. Wir werden über eine kleine Bucht gebracht – drei Engländer schwimmen schnell mal durch das recht frische Wasser hinüber – und nacheinander in die Kanus gesetzt. Die englischen Jungs haben damit offensichtlich schon Erfahrung. Jana wackelt am Anfang ziemlich, kommt dann in Ufernähe aber doch voran.


Ich dagegen… setze mich rein, will lospaddeln – und schon verliere ich das Gleichgewicht und hänge kopfüber im Wasser! Jana hatte mich noch gewarnt, aber ich dachte: „Wird schon funktionieren!“ Die Eskimorolle habe ich natürlich nicht geübt, aber irgendwie schaffe ich es, mich wieder nach oben zu drehen. Dass ich klitschnass bin, ist bei den warmen Temperaturen kein Problem; aber meine teure Gleitsichtbrille ist bei dieser Aktion im See gelandet. Was nun? Erst einmal soll sich das aufgewühlte Wasser beruhigen, meint der Gastgeber. Ehe ich selber einen Versuch unternehmen kann, nach der Brille zu tauchen, fährt der junge Veranstalter hinüber zu seinem Haus, holt einen anderen aus seiner Sippe, und der findet die Gläser gleich beim ersten Tauchgang wieder. Glück gehabt! Ein zweites Mal probiere ich das Kajak heute nicht mehr aus; und auch Jana ist bald wieder am Ufer, während die fünf Engländer weiß-Gott-wo verschwunden sind.

Zum guten Mittagessen – hier gibt es unter anderem gegrilltes Ziegenfleisch – sind alle wieder da, und am frühen Nachmittag treten wir dann die Rückfahrt an, die uns auf dem gleichen Weg wie am Morgen über Koman nach Shkodra führt. Am nächsten Tag verlassen wir das Zentrum Nordalbaniens aber schon wieder; und diesmal werden wir eine Nacht in den Bergen bleiben, ehe wir wieder zurückkehren! Die Fahrt in das entlegene Bergdorf Theth lohnt sich nämlich nicht, wenn man dort nur ein paar Stunden bleiben kann. Bep, unser Gastgeber in Shkodra, hat uns auch diesmal wieder bestens unterstützt: Die Unterkunft, meint er, sollen wir am besten schon bei Booking.com reservieren; er kümmert sich dann um eine Mitfahrgelegenheit in einem der Kleinbusse, die jeden Morgen zu der Tour hinauf in die Albanischen Alpen starten. Denn so viel ist eh klar: Mit dem PKW ist Theth nach allen Beschreibungen nicht zu erreichen; dafür ist die Strecke im letzten Abschnitt viel zu schlecht.
Die regulären Touristen-Kleinbusse waren schon voll; doch Bep hat den Fahrer eines Lieferwagens aufgetrieben, in dessen betagtem Mercedes-Transporter einige Sitzbänke montiert sind und der deswegen auch immer ein paar Fahrgäste mitnehmen kann – normalerweise aber keine Fremden, sondern Einheimische. Das ist uns im Prinzip egal; nur wo fährt das Fahrzeug los und wie können wir es erkennen? Das könnte in vielen Ländern zu Problemen führen – in Albanien nicht: Bep bringt uns frühmorgens um sieben Uhr an eine Ausfallstraße, fragt herum, welches Auto das richtige ist, und begleitet uns dann noch dorthin, nicht ohne dem Fahrer zu erklären, in welche Unterkunft wir wollen und dass wir morgen Nachmittag wieder zurückkehren. Natürlich zu Bep: Unser Auto mit einem Teil unseres Gepäcks haben wir bei ihm stehen lassen.
Um halb acht Uhr soll’s losgehen; außer uns fahren noch eine alte Frau, ein Jugendlicher und ein älterer Mann mit. Auf dem Markt nimmt der Fahrer aber erst noch eine ganze Reihe von Lebensmitteln mit; danach halten wir an einem Baumarkt, wo Nägel und Schrauben abgewogen und gekauft werden – der Transporter versorgt das Dorf mit allem, was so gebraucht wird. Jetzt können wir hoffentlich endgültig starten – doch nein: Irgendwo am Stadtrand hält das Fahrzeug erneut an, und es wird ein paar Mal hin- und hertelefoniert. Wir bekommen mit, dass es noch einen Passagier gibt, der mitfahren möchte, sich aber verspätet hat. Als er nach längerem Warten endlich kommt, wird es zwischen ihm und dem Fahrer ziemlich laut: Gibt es jetzt richtig Ärger? Von wegen – das ist alles nur Spaß; aber der Chauffeur macht dem Verspäteten schon klar, dass da zwei Touristen im Auto sitzen, die man eigentlich nicht so lange warten lassen kann. Worauf sich der gute Mann spaßeshalber bei uns gleich mal mit einer Verbeugung entschuldigt: Der ganze Bus lacht, und jetzt beginnt die Fahrt wirklich. Allerdings nur bis zu einem kleinen Dorfladen 15 Kilometer außerhalb der Stadt: Dort können sich alle nochmal verpflegen, bevor wir die Wildnis erreichen. Jana kauft für uns Wasser und Brot und will mit einem 2000 Lek-Schein bezahlen, das sind umgerechnet nicht mal 20 Euro. Aber auf diesen Betrag kann die Ladenbetreiberin nicht herausgeben – also bekommen wir den Proviant einfach mal geschenkt. Unglaublich, diese Menschen in Albanien!
Anschließend führt die schmale Straße nordostwärts immer höher hinauf in die Gebirgskette der Malësia e Madhe. Obwohl es Ende Mai ist, sieht man an den Bergflanken noch reichlich Schnee; und je näher sich unser Fahrzeug auf die 1.685 Meter hoch gelegene Passhöhe des Qafa e Thorës kämpft, umso öfter liegen auch am Straßenrand noch Schneereste. Während wir oben eine kurze Pause einlegen und das überwältigende Panorama genießen, sucht der zuletzt zugestiegene Fahrgast trotz fehlender Fremdsprachenkenntnisse das Gespräch mit uns. Wir sind ja aus Deutschland, und da möchte er uns schon mitteilen, dass vor einigen Jahren ein deutsches Fernsehteam in seinem Haus zu Gast war: Zu Tisch in Albanien heißt die Sendung, die dabei produziert wurde, auf Arte gelaufen ist und heute auf YouTube leicht zu finden ist. Wir werden uns die Dokumentation später selbst ansehen und können sie nur empfehlen – unser Mitfahrer Ded Nika spielt darin die Hauptrolle; der Film zeigt sehr anschaulich und realistisch das einfache Leben der Bergbauern, die den Alltag in ihrer entlegenen Heimat fast autark meistern müssen.


Die Abgeschiedenheit der Gegend um Theth, unserem Ziel, liegt nicht zuletzt auch am miserablen Zustand der schmalen Piste. Die ist mit groben Steinen gespickt, von Schlaglöchern übersät und fällt an einer Seite ohne Leitplanke hunderte von Metern in die Tiefe ab. Keine Strecke, die man als normaler Tourist selbst befahren sollte; doch einige, insbesondere deutsche Wohnmobilisten älterer Jahrgänge ignorieren offensichtlich alle Warnungen. Doch die sind wohlbegründet – und weil die Herrschaften ihre voluminösen Gefährte eben nicht immer souverän beherrschen (vor allem, wenn man bis zu einer Ausweichmöglichkeit zurückstoßen muss), kommt es ein paarmal zu recht brenzligen Situationen. Nicht für uns, aber für die schweißgebadeten, rotköpfigen Fahrer; einen trennen nach einem solchen Manöver nur noch wenige Millimeter vom Abgrund… In Theth angekommen, erfahren wir, dass es immer wieder Touristen gibt, die selbst hierher fahren und den Ort völlig fertig erreichen – total gestresst von der Anfahrt und mit der Angst im Nacken, dass sie dasselbe Harakiri-Spiel bei der Weiterfahrt wieder erwartet.


Wir dagegen steigen gegen halb zwölf Uhr guter Dinge in der idyllischen kleinen Streusiedlung aus. Weil der Weg zu unserer Unterkunft gerade von einem Bagger ausgebessert wird, kann uns unser Chauffeur nicht ganz bis vor die Tür bringen – verlaufen kann man sich zwar eigentlich nicht, aber Bauer Ded lässt es sich nicht nehmen, unseren Rucksack zu schultern und uns den Weg zur Bujtina Polia zu zeigen.

Die steht gerade mal 100 Meter von der Dorfkirche entfernt – das hübsche, Shën Gjon geweihte katholische Gotteshaus wurde 1892 erbaut und hat die Zerstörungen der kommunistischen Ära überlebt, da es als Gesundheitszentrum benutzt wurde. Nur der Kirchturm wurde abgerissen und zwischen 2004 und 2006 neu errichtet.


Ein zweites Wahrzeichen von Theth ist nach vielleicht fünf Minuten zu Fuß erreicht: Die Kulla e Ngujimit ist einer der wenigen noch erhaltenen Blutrachetürme und heute zur Besichtigung freigegeben. Sie erinnert an die unselige Tradition der vor allem in Nordalbanien praktizierten Blutrache; oft wurden Männer jahrelang von ihren Familien in derartigen Türmen eingeschlossen, um sie vor verfeindeten Clans zu schützen. Die Kulla in Theth war dagegen dazu gedacht, dass ein unter Mordverdacht Stehender sich hier 15 Tage lang geschützt im Obergeschoss dieses Turms aufhalten konnte. Dieser war nur über eine Treppe erreichbar. Während dieser Zeit musste ein Schöffengericht die Umstände des Streitfalles aufklären.



Waren früher diese oft über Generationen hinweg gehenden Feindschaften das größte Problem für diese abgeschiedene Gegend, so führten nach dem Ende des Kommunismus die harten Lebensbedingungen hier oben dazu, dass die meisten Einwohner die Dörfer und Einzelhöfe verließen. Seit gut zehn Jahren hat eine Gegenbewegung eingesetzt: Die paradiesisch anmutende Berglandschaft wird bei Wandertouristen immer beliebter; die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) hat gerade in Theth viel bewegt und zur Entstehung zahlreicher kleiner Gästehäuser beigetragen. Dadurch hat sich die Lebensgrundlage für viele Dorfbewohner entscheidend verbessert, und es gibt hier wieder Perspektiven, um zu bleiben. Nur der von der Regierung schon lange angekündigte, aber immer noch nicht durchgeführte Ausbau der Straße bremst die Entwicklung – die Einheimischen schimpfen, der Natur tut ein nicht allzu rasantes Anwachsen des Tourismus aber wohl gut.


Und so sind zwar durchaus einige Wanderer unterwegs, um die spektakulärsten Naturschönheiten wie den tief eingeschnittenen Grunas-Canyon, durch den der kristallklare, reißende Theth-Fluss rauscht, oder den etwa 30 Meter in die Tiefe stürzenden Wasserfall Ujëvara e Grunasit, der sich nicht weit davon entfernt befindet, zu bestaunen. Doch der Ansturm der Touristen hält sich derzeit noch in erträglichen Grenzen; und die einheimischen Guides, die Gruppen hier durchführen, betreuen ihre Gäste sehr individuell – am Wasserfall legen sie sogar Steine ins Flussbett, um die Überquerung zu erleichtern.




Davon abgesehen, eignet sich der fast autofreie Ort einfach bestens, um abzuschalten und das Landleben zu beobachten, das hier noch viel vom Flair bei uns längst vergangener Tage hat – da wird das Heu auf der Wiese mit der Sense gemäht, ein Lastpferd schleppt Steine zur Baustelle, ein altes Weiblein sitzt von Schafen umgeben auf der Weide und strickt. Sogar eine freilebende Schildkröte kriecht über den Weg…




