Zug.
Eine mehrtägige Radwanderung haben wir schon seit fünf Jahren nicht mehr unternommen. Damals, 2014, sind wir von zuhause – also von der Donau – bis hinauf an die Nordsee geradelt; zuvor sind wir in zwei Abschnitten bereits den deutschen Teil der Donau, unseres großen Heimatflusses, abgefahren. Nun also, an Pfingsten 2019, soll es wieder so weit sein: Die Fahrräder werden bepackt, am Samstagmorgen um kurz vor neun Uhr radeln wir los – zunächst allerdings nur wenige hundert Meter bis zu unserem Heimatbahnhof Tapfheim. Ich will nämlich in den nächsten Tagen einen lang gehegten Wunsch verwirklichen: Zum ersten Mal in meinem Leben möchte ich den Fluss, an dem ich geboren und aufgewachsen bin, mit dem ich trotz Umzugs auch heute noch durch Beruf, Familie und Sport aufs Engste verbunden bin, in seiner ganzen Länge, also auch den mir bis dato unbekannten österreichischen Oberlauf, kennenlernen und entlangfahren – den Lech.
Dazu muss aber erst einmal die Anfahrt bewältigt werden, und die ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln fast eine Tagesreise. Die Bahn nimmt ja prinzipiell Fahrräder mit – an einem ersten Ferientag wie heute kommen aber beileibe nicht nur wir auf die Idee, mitsamt dem Fahrrad auf Tour zu gehen. Von Tapfheim bis Ulm stellen wir unsere Gefährte im agilis zu denen einer größeren Gruppe aus dem Ingolstädter Raum, die weiter nach Donaueschingen will – das geht noch ganz gut. In Ulm wird’s dann haarig: Obwohl der Regionalexpress nach Kempten hier eingesetzt wird, sind vor uns schon so viele Radfahrer zugestiegen, dass wir unsere Drahtesel gerade noch so unterstellen können – einer, der hinter uns kommt, wird von den Zugbegleitern nicht mehr hineingelassen. Dass wir nur einen Stehplatz erhalten, weil wir bei unseren Rädern, die leicht umfallen könnten, Wache schieben müssen, verbuchen wir als kleineres Übel – ansonsten wäre unsere Ankunft im Oberen Lechtal wohl ernsthaft gefährdet gewesen! Wirklich entspannter wird es in der Regionalbahn von Kempten nach Reutte. Mit ihm durchqueren wir die wunderschönen Allgäuer Bergwiesen und haben in Reutte, bereits in Tirol gelegen (bis hierher hat das Bayernticket Gültigkeit), gut eine Stunde Wartezeit zu überbrücken, bevor um kurz nach 14 Uhr der vermeintlich letzte Postbus des Tages mit Radständer startet, der bis Warth fährt.

Doch da war das Internet als Informationsquelle wohl mal nicht so ganz zuverlässig: Eine Stunde später hätte es nochmal eine Verbindung gegeben. Gut zu wissen – wir können aber nun eineinhalb Stunden lang bei stetig besser werdendem Wetter durch das Busfenster schon mal die Schönheiten des Tiroler Lechtals bewundern, das wir in ein paar Tagen bergab fahren werden.
Letzte Bushaltestelle Warth: Die 1.500 Meter hoch gelegene, zum Bundesland Vorarlberg gehörende Gemeinde ist aber noch nicht unser Tagesziel. Von dem hoch über dem Lech gelegenen Ort radeln wir leicht talwärts auf der B 198 nach Lech am Arlberg, ehe zum Schluss noch ein Anstieg in den drei Kilometer entfernten Ortsteil Zug zu bewältigen ist.


Schon vor einigen Wochen haben wir hier ein Zimmer für zwei Nächte in der Pension Alwin gebucht – eine der wenigen überhaupt wählbaren Übernachtungsmöglichkeiten in und um Lech. Alles ausgebucht? Möchte man meinen, wenn man noch nie hier war – so wie wir. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus: Hier haben die meisten Hotels, Pensionen und Geschäfte noch geschlossen – die Sommersaison startet erst um den 20. Juni herum.

Tatsächlich sind die Berge ringsherum noch ganz ordentlich verschneit – für Bergwanderungen nicht wirklich optimal, und so macht die Gegend einen ziemlich menschenleeren Eindruck. Was auch dazu führt, dass wir uns zum Abendessen jeweils noch einmal aufs Fahrrad schwingen und nach Lech fahren müssen: Dort haben zumindest zwei Pizzerien geöffnet, darunter mit dem von der ehemaligen Ski-Olympiasiegerin Trude Jochum-Beiser gegründeten Restaurant Olympia eine recht empfehlenswerte.
Um herauszufinden, wo der Lech denn nun genau entspringt, müssen wir am Vormittag des Pfingstsonntags noch ein ganzes Stück bergauf radeln: Ein schmaler, aber geteerter Weg führt von Zug aus in Richtung Lechquellgebiet. Zwar nennt man den reißenden Bergbach erst nach dem Zusammenfluss von Spullerbach und Formarinbach (auch schon ein ganzes Stück oberhalb von Zug) Lech, doch da der Formarinbach der Hauptarm ist, folgen wir seinem Lauf bis zur letzten von Fahrzeugen benutzbaren Brücke. Kurz dahinter versperren ausgedehnte Schneefelder, die den Teerweg immer wieder unpassierbar machen, die Weiterfahrt.







Wir stellen unsere Räder also ab und setzen unsere Expedition zu Fuß fort: Schneefeld um Schneefeld ist zu durchstapfen, dazwischen immer wieder ein Stück abgetauter Weg. Als wir uns schließlich der 1871 Meter hoch gelegenen Formarinalpe nähern, sind wir endgültig im Spätwinter angekommen – und das im Juni! Hier oben sind wir völlig alleine mit uns und der Natur – stundenlang begegnen wir keiner Menschenseele, dafür pfeifenden Murmeltieren und einem Fuchs auf Beutejagd.




Oberhalb des auf der Flur der Gemeinde Dalaas befindlichen Lechquellgebiets – die eine Quelle gibt es nicht – laufen wir noch ein Stück hinauf: Wenn wir schon einmal hier sind, dann wollen wir auch die Rote Wand und den Formarinsee, der sich in einer Mulde unterhalb des Bergmassivs erstreckt, sehen!


Und es ist ein fantastisches Szenario, das sich hier auftut: Die noch tief verschneite Landschaft, der zugefrorene, bläulich schimmernde See und die massiven Bergketten mit der weit oben thronenden Freiburger Hütte im hintersten Lechtal – dazu haben wir das Glück, ein Bänklein auf einer bereits blühenden Wiese hoch über dem See zu finden, wo wir picknicken können.

Eine unerfreuliche Entdeckung, die selbst unserer Pensionswirtin noch nicht bekannt war, machen wir allerdings auch: Eine Lawine hat eine kleine Fischerhütte komplett zerstört, einige Reste liegen jetzt unansehnlich verstreut auf der Eisoberfläche herum.


Es folgt der Rückzug – zu Fuß und mit dem Rad begleiten wir bis Zug den Lech auf seinen ersten, spektakulären Kilometern durchs Hochgebirge, mit einigen kleinen Wasserfällen und sich teilweise sogar noch unter der geschlossenen Schneedecke hindurch seinen Weg bahnend.






Und zurück in der Pension Alwin, freuen wir uns über den Luxus einer wunderschönen hauseigenen Sauna, von der wir am späten Nachmittag denn auch Gebrauch machen – eine angenehme Entspannung nach einem aktiven Tag an der frischen Luft!

