Reutte.

Nachts hat es geregnet. Doch als wir am frühen Vormittag das Gästehaus Wolf wieder verlassen, werden die noch an den Bergflanken hängenden Wolken gerade von der warmen Frühjahrssonne aufgesaugt. Ehe wir Elbigenalp Lebewohl sagen, wollen wir auf jeden Fall noch die am Ortsrand stehende, ursprünglich gotische und später barockisierte Pfarrkirche St. Nikolaus besuchen. Noch mehr als die Pfarrkirche selbst interessiert uns aber die gleich nebenan befindliche Martinskapelle, die als Friedhofskapelle dient. Zum einen gemahnt dort der Gemäldezyklus Totentanz von Johann Anton Falger alle Menschen, egal welchen Alters und Standes, an ihre Sterblichkeit; zudem vermittelt das Beinhaus im Untergeschoss sehr eindringlich, dass Falgers Bildergeschichte einen sehr realen Hintergrund besitzt.

Herrlicher Frühlingsmorgen in Elbigenalp
Auf freiem Feld: Elbigenalps Pfarrkirche St. Nikolaus
…mit sehenswerter barocker Innenausstattung
Die unscheinbare spätgotische Martinskapelle
…beherbergt den Totentanz von Johann Anton Falger…
…und im Untergeschoss den Karner

Doch schnell liegen diese nachdenklich machenden Eindrücke hinter uns, als wir die ersten Kilometer durch die herrliche Alpenlandschaft geradelt sind, die der Lech auch auf dem heutigen Abschnitt durchfließt. Nahe der Gemeinde Elmen, bei deren kleinem Ortsteil Klimm, spannt sich eine Holzbrücke über den derzeit viel Wasser führenden, reißenden Lech. Nach einem Hochwasser anno 2005 veränderte der in Tirol auf weiten Strecken unverbaute letzte Wildfluss der nördlichen Alpen seinen Flusslauf derart, dass diese Brücke erweitert und neu gestaltet werden musste – Gelegenheit, dort direkt über dem Wasserlauf die Verwaltung des Naturparks Tiroler Lech mit einem Info-Zentrum einzurichten.

An diesem wunderschönen Vormittag…
…saugt die Sonne die Wolkenschwaden schnell auf
Ursprünglich anmutender Flussabschnitt bei Häselgehr

Eine Stippvisite dort vermittelt uns einige grundlegende Erkenntnisse über das Ökosystem am Lech und verschafft uns auch genauere Informationen zum nächsten Ziel, das wir von hier aus ansteuern wollen. Schon unsere Pensionswirte in Elbigenalp haben uns empfohlen, bei Martinau das größte Frauenschuh-Gebiet Europas zu besuchen; hier gibt es nun auch einen Flyer dazu und die Bestätigung: „Es lohnt sich wirklich, dort vorbeizuschauen; der Frauenschuh steht da gerade in voller Blüte!“

Klimmer Brücke…
…mit dem Info-Zentrum des Naturparks Tiroler Lech
…von dem aus wir einen schönen Ausblick auf den Lech und das nahe Elmen haben

Als wir Martinau erreicht haben, müssen wir uns ungeachtet der Ausschilderung ein bisschen durch den Lech-Auwald kämpfen, bis wir das Frauenschuh-Gebiet gefunden haben. Beim anschließenden Spaziergang dort können wir aber gar nicht anders, als fasziniert die sich weit erstreckenden, von Maiglöckchen und anderen Blumenarten umrahmten Orchideenkolonien zu bewundern. Als auf der Roten Liste der gefährdeten Arten stehende Spezies ist der Frauenschuh streng geschützt; seine Seltenheit hat nicht nur mit dem Verschwinden althergebrachter Lebensräume zu tun, sondern wird zusätzlich noch dadurch forciert, dass die Pflanze nur in Symbiose mit einer bestimmten Pilzart namens Rhizoctonia gedeihen kann.

In voller Blüte: die Frauenschuh-Orchideen…
…bei Martinau

Vorbei an Vorderhornbach und Stanzach radeln wir anschließend durch eine idyllische Wiesenlandschaft, während der Lech in diesem Abschnitt immer breiter wird, in weiten Schlingen durchs Tal mäandert und ständig neue Kiesbänke aufspült und wieder abträgt. An einem Steilufer des Flusses legen wir an einem aussichtsreichen Punkt eine Mittagsrast ein und sind anschließend nach wenigen Minuten an der schon 1906 erbauten, 75 Meter langen Forchacher Hängebrücke angekommen.

Glückliche Kühe auf einer Weide bei Stanzach
Der Schwarzwasserbach strebt bei Forchach dem Lech zu
Grandiose wilde Flusslandschaft bei Forchach
Über 100 Jahre alt: Forchacher Hängebrücke

Zum Teil entlang des Flusses, aber oft auch ein Stück weit entfernt Viehweiden querend, auf denen Kühe gemütlich ihre Tage verbringen, setzen wir die Etappe zunächst bis Weißenbach fort – dort findet sich im Zentrum des Dorfes, gleich gegenüber der Pfarrkirche St. Sebastian, eine Bäckerei, in der wir uns mit Kaffee versorgen können.

Lechsteg bei Weißenbach an der Stelle der alten Johannesbrücke
Im Zentrum von Weißenbach: Pfarrkirche St. Sebastian

Der Lech-Radweg – in Tirol bestens ausgeschildert – führt nun weiter am linken Flußufer entlang talwärts. Die Landschaft weitet sich zusehends; der bisherige hochalpine Charakter schwindet demzufolge allmählich, wenngleich die Bergketten immer noch ziemlich hoch aufragen. Das hat aber auch Folgen für den Lech, denn bei Höfen erreichen wir das erste Wehr und auch das erste Kraftwerk, das die Wasserkraft des Gebirgsflusses zur Energiegewinnung nutzt. Das alte Kraftwerk ging vor gut zehn Jahren außer Betrieb; das neue hat erst im Juli 2018 seinen Betrieb aufgenommen.

Verfahren unmöglich: Der Lech-Radweg in Tirol ist bestens ausgeschildert
Erstes Lechwehr mit Kraftwerk in Höfen
Auf der Lechbrücke zwischen Lechaschau und Reutte

Von hier sind es nur noch wenige Kilometer nach Reutte, dem Bezirkshauptort des Außerfern, wie diese westlich des Fernpasses liegende Ecke Tirols auch genannt wird, in der wir seit gestern unterwegs sind. Eigentlich wollen wir in der Marktgemeinde nur einen kleinen Rundgang unternehmen und dann noch ein Stück weiterfahren. Doch als wir so durch den recht gemütlichen, wenngleich von hohem Verkehrsaufkommen beeinträchtigten Ortskern bummeln, fällt uns eine Werbetafel auf, die auf einige der touristischen Attraktionen von Reutte aufmerksam macht. Spontan beschließen wir, unsere Reisepläne zu ändern: Wir suchen ein Quartier und sehen uns hier etwas genauer um!

Marktgemeindeamt und Gebäude der Bezirkshauptmannschaft in Reuttes Zentrum
Zentral gelegen: das Hotel Wolke 7

Dank der Unterstützung von Internet und örtlichem Tourismusamt finden wir schnell ein Zimmer im zentral gelegenen, sehr hübschen Hotel Wolke 7 und können anschließend noch eine Exkursion an den Ortsrand von Reutte unternehmen – ein paar Kilometer mit den Fahrrädern, die wir gut versteckt hinter einer kleinen Feldscheune nahe der Schleppliftstation Waldrast abstellen, danach weiter zu Fuß bergauf, bis wir die in einem Taleinschnitt liegende Klause erreicht haben, eine kleine Feste, die sich auf dem Durchgangsweg zu Füßen wesentlich größerer Burganlagen befindet. Ein kurzer, aber heftiger Regenschauer stört uns nicht, da wir diesen mit einem Abendessen in einem Restaurant in einem ehemaligen Salzstadel, der aus einem benachbarten Ort hierher versetzt wurde, überbrücken.

Abendliche Wanderung…
…über blühende Bergwiesen…
…zur Burgruine Ehrenberg
Erste Station ist die Ehrenberger Klause
…mit der 1807 errichteten Kapelle Christus vom Stein

Als das Wetter wieder besser geworden ist, setzen wir unsere Wanderung fort – nun auf einem recht steil ansteigenden Pfad, der direkt zur imposanten, auf etwa 1.100 Metern hoch über dem Lechtal gelegenen Burg Ehrenberg führt, einer kurz vor 1300 entstandenen Wehranlage der Grafen von Tirol. Dass sie sich heute als Ruine präsentiert, liegt nicht an kriegsbedingten Zerstörungen, sondern ist darauf zurückzuführen, dass die Burg, nachdem sie ihren Verteidigungszweck verloren hatte, ab dem späten 18. Jahrhundert als Steinbruch genutzt wurde.

Restauriertes Eingangstor der Befestigungsanlage…
…um Burg Ehrenberg
Die erhaltenen Teile der Burgruine…
…sind sehr beeindruckend
Von hier bietet sich ein tolles Panorama über Reutte…
…und das Lechtal

Burg Ehrenberg ist allerdings beileibe nicht die einzige touristische Attraktion hier oben: Den Taleinschnitt mit der Klause, durch den eine Bundesstraße führt, überspannt seit 2014 die vom Guinness-Buch der Rekorde mit 402 Metern als längste Fußgängerhängebrücke im Tibet-Stil ausgezeichnete highline179. Zwar ist es schon 20 Uhr abends, als wir uns zu ihrer Überquerung aufmachen; doch dank des Ticket-Automaten und des personallosen Kontrollsystems ist der Zutritt hier bis 22 Uhr möglich. 114 Meter hoch über dem Abgrund schwanken wir auf die andere Talseite – zum einen des fantastischen Panoramas mit Burg Ehrenberg und der im 18. Jahrhundert auf einem noch höher gelegenen Bergrücken angelegten Festung Schlosskopf wegen, zum anderen aber auch, weil sich hier noch eine weitere Festungsanlage befindet – Fort Claudia. Sie wurde im 17. Jahrhundert angelegt und war ein weiterer Teil des Systems an Sperrfestungen, mit denen die Tiroler Landesfürsten ihre Alpenfestung uneinnehmbar machen wollten. Zu dieser abendlichen Stunde sind wir hier oben fern vom üblichen Touristenrummel fast alleine unterwegs und können die wunderbare landschaftliche Lage umso ungestörter genießen.

Eine Überquerung der Hängebrücke highline179
…ist ein echter Balanceakt
Tief unter uns: die Fernpassstraße
…am gegenüberliegenden Hang: Festung Schlosskopf (links oben) und Burg Ehrenberg
Auf dem östlichen Gegenhang liegt Fort Claudia