Peiting.
Auch in dieser Nacht hat es wieder geregnet. Im Gegensatz zu gestern sind die Wolken heute jedoch hartnäckig und sorgen für deutlich kühlere Temperaturen, als wir unsere dritte Etappe beginnen. Von Reutte müssen wir zurück auf die andere, die linke Lechseite, durchqueren bei Pflach eine wunderbar stille amphibische Auwasserwelt und strampeln anschließend teilweise entlang der stark befahrenen Bundesstraße in Richtung Grenze, die wir kurz hinter Unterpinswang erreichen.





Das deutsche Grenzschild liegt nur wenige hundert Meter hinter uns, als ein erster Pflichthalt ansteht: Im Süden von Füssen im schwäbischen Landkreis Ostallgäu, der ersten Stadt, die wir im Verlaufe unserer Tour erreichen, befindet sich der Lechfall. Vom früher hier befindlichen Katarakt ist schon seit gut 230 Jahren nichts mehr erkennbar, denn bereits Ende des 18. Jahrhunderts errichteten die Füssener unter anderem zur Ableitung eines Kanals ein Wehr mit mehreren Stufen, die seitdem vom Maxsteg, der nach dem ehemaligen bayerischen König Maximilian benannten Fußgängerbrücke, ein beeindruckendes Panorama und zugleich die Ouvertüre für den darauffolgenden Flussabschnitt, bei dem der Lech durch eine enge und gewundene Klamm rauscht, bildet.



Von hier ist man schnell in der malerischen Altstadt, die sich am Nordufer des Lechs entlangzieht. Bei unserem Bummel durch das auf eine römische Siedlung zurückgehende Füssen nutzen wir die Gelegenheit, einige der bedeutendsten unter den zahlreichen Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Gleich nach der Lechbrücke stehen wir an der Heilig-Geist-Spitalkirche. Die bunt bemalte Fassade und die reiche Innenausstattung machen das Mitte des 18. Jahrhunderts im Stile des Rokoko errichtete Kirchlein außerordentlich sehenswert.


Einige Jahrzehnte älter und damit ein Bauwerk des Barock ist in seinem heutigen Erscheinungsbild das nahe Kloster St. Mang, von dem wir uns allerdings nur den sehenswerten Innenhof zu Gemüte führen. Nicht weit entfernt ragt auf steilem Felsen das Hohe Schloss empor. Die hauptsächliche Entstehungszeit liegt im späten 15. Jahrhundert, als die hier als Landesherren fungierenden Augsburger Fürstbischöfe diese Festung beträchtlich erweitern ließen. Eine Besonderheit der vorbildlich restaurierten Anlage ist die sehr fachmännisch ausgeführte Illusionsmalerei, die dem Betrachter nicht vorhandene Bauelemente wie Erker vorgaukelt. Auch der Basilika St. Mang, die gleich unterhalb des Schlossbergs liegt, sieht man an, dass an ihr die gleichen Künstler malerisch tätig waren.




Der Charme Füssens liegt darin, dass sich die kompletten Straßenzüge der Altstadt in vielfältiger Weise aus bunten historischen Fassaden verschiedener Epochen zusammensetzen; das haben außer uns aber auch noch zahlreiche andere Touristen herausgefunden – die Innenstadt quillt förmlich über von Besuchern. Zum ersten Mal auf unserer Tour – und zum einzigen Male in diesem Ausmaß – treffen wir auf eine große Zahl von Gästen aus aller Herren Länder. Klar, Füssen ist der Endpunkt der Romantischen Straße und zugleich der Ausgangspunkt für das nur wenige Kilometer entfernte, weltberühmte Schloss Neuschwanstein – aber es liegt eben auch am Lech, und da erhoffen wir uns in der gut sortierten Touristen-Information der Stadt zumindest ein bisschen Info-Material auch für unseren weiteren Weg am Fluss entlang. Doch weit gefehlt: Einen so bezeichneten Lech-Radweg gibt es auf deutscher Seite schlichtweg nicht; Informationen über Radwege beschränken sich auf das Ostallgäu und angrenzende Gebiete, und die bestehenden Ausschilderungen für den Fernradweg Romantische Straße bzw. die Via Claudia Augusta folgen nur grob dem Flusslauf, während wir ja versuchen wollen, ihm auf ganzer Länge so nahe wie möglich zu bleiben.



So nahe wie möglich am Lech – das bedeutet nach Füssen zunächst, dem Ufer des Forggensees entlang zu fahren. Denn zu diesem größten Stausee Deutschlands wird der Fluss seit 1954 jeweils im Sommerhalbjahr aufgestaut. Intention: Die Wassermenge, die jahreszeitlich bedingt stark schwankt, besser zu regulieren und damit den zahlreichen flussabwärts gelegenen Wasserkraftwerken eine sichere Grundlage für eine ganzjährige Stromproduktion zu bieten. Zugleich hat der Forggensee, dessen Name auf eine kleine, aufgrund der Flutung der Region aufgegebene ehemalige Siedlung zurückgeht, touristische Anziehungskraft. Kleine Yachthäfen, Anlegestellen für Ausflugsboote und Campingplätze an seinen Gestaden zeugen davon.


Die vielleicht bekannteste, gleichzeitig aber auch umstrittenste Attraktion am Forggensee liegt noch auf der Flur der Stadt Füssen: Das mittlerweile Ludwigs Festspielhaus genannte, im Jahre 2000 eröffnete Musiktheater hat zwei Schließungen, die Insolvenz einer Betreibergesellschaft und einen Neubeginn 2017 hinter sich – derzeit dreht sich die Debatte darum, ob der Investor neben dem Festspielhaus ein Fünf-Sterne-Hotel errichten darf, das aus seiner Sicht eine unabdingbare Grundlage für einen dauerhaft wirtschaftlichen Betrieb der Einrichtung darstellt. Umweltschützer und Anliegergemeinden sehen diese Pläne jedoch aufgrund der damit verbundenen weiteren Besucherzuwächse sehr kritisch.

Wir als flüchtige Besucher bekommen davon natürlich nichts mit; stattdessen genießen wir bei der Weiterfahrt die idyllische Hügellandschaft des Allgäu und den eindrucksvollen Blick zurück in Richtung Berge, der auch die weithin sichtbare Silhouette von Schloss Neuschwanstein einschließt.

Diesen Hort des Massentourismus lassen wir auf unserer Tour einfach aus; wir steuern über Berg und Tal die Talsperre Roßhaupten am Nordende des Forggensees an, hinter der der Lech wieder Flusscharakter annimmt. Was uns schon am Forggensee auffällt, ist die veränderte Farbe des Wassers: Seit Steeg war der Fluss aufgrund der großen Wassermenge und der dadurch mitgeführten Sedimente graubraun, plötzlich schimmert er wieder, wie zu Beginn, in seinem typischen Grünton. Woran das liegt? Wir wissen es nicht sicher, vermuten aber stark, dass durch das Aufstauen des Sees so viele Sedimente absinken, dass das Wasser seine ursprüngliche Farbe wieder annimmt.

Als wir die Talsperre bei Roßhaupten erreichen, stellen wir fest, dass wir an einer Großbaustelle angekommen sind: Derzeit wird die Dammabdichtung grundlegend erneuert. Die seit Mai 2018 andauernden, mit 20 Millionen Euro veranschlagten Arbeiten bedingen die langfristige Sperrung der über den Damm führenden Kreisstraße zwischen Roßhaupten und Halblech.



Nördlich von Roßhaupten sind wir offiziell wieder am Lech, doch wirklichen Flusscharakter besitzt der Wasserlauf ab nun nicht mehr, denn alle paar Kilometer wird er durch eine Staustufe aufgehalten und zur Stromerzeugung genutzt. So erreichen wir schon bald den nächsten Damm bei Prem. Eigentlich haben wir vor, an der Westseite weiterzuradeln, doch ein Schild, das auf einen nahen Biergarten hinweist, verlockt uns dazu, uns ans andere Lechufer und damit nach Oberbayern zu wagen. Nicht die beste Idee: Der Biergarten hat geschlossen, und der Wanderweg, den wir an der Ostseite des Flusses entlangfahren, erweist sich zwar als sehr idyllisch – wir kommen an ein bildschönes Wehr und treffen sogar noch einmal auf blühenden Frauenschuh -, allerdings als so eng und holprig, dass wir unsere Räder immer wieder schieben müssen.





So sind wir heilfroh, als wir in Gründl wieder auf eine asphaltierte Straße treffen und den Lech, der sich hier noch einmal wie ein Wildfluss gebärdet, über eine komfortable Brücke queren können. Damit sind wir wieder in Schwaben, in Lechbruck, wo wir uns in einem Eiscafé eine Pause gönnen. Zu Ende ist diese Tagesetappe aber damit noch nicht: Durch einsame Wald- und Wiesenlandschaft, die bei allmählich besser werdendem Wetter in ein warmes spätnachmittägliches Gold gehüllt wird, steuern wir über Berg und Tal auf Burggen zu, eine ruhige ländliche Gemeinde, in der wir – wenn auch auf der Westseite des Lechs unterwegs – endgültig Oberbayern erreichen.



Hauptattraktion hier ist nicht der Ort selbst, sondern ein Aussichtspunkt etwas östlich davon – von hier hat man einen wunderbaren Blick auf den vielleicht schönsten Flussabschnitt des Lechs auf deutscher Seite, die Litzauer Schleife. Sie wird auch als letzter Teil des deutschen Lechs gerühmt, der noch Wildflusscharakter besitzt. Eine sehr informative Hinweistafel macht jedoch klar, dass seit der Errichtung des Forggensees die Artenvielfalt an der Litzauer Schleife stark abgenommen hat, da durch das fehlende Geschiebe und die ausbleibenden Hochwässer die Biotope sich verändert haben und dadurch die Lebensgrundlage verschiedener Arten entzogen worden ist.


Ehe wir unsere Fahrräder endgültig abstellen können, müssen wir aber nochmals einige Kilometer bewältigen – und dabei auch noch einmal den Lech überqueren. Dies tun wir über die längste Lechbrücke überhaupt, die sich bei Schongau 566 Meter weit über das bis zu 45 Meter tiefer liegende Tal spannt. Sie führt die B 17 und die B 472 über den Fluss, bietet am Rand aber auch Platz für Fahrräder und Fußgänger. Wenig später sind wir endlich am Ziel: Die 11.000 Einwohner zählende Marktgemeinde Peiting ist erreicht. Hier haben wir im etwas angejahrten, aber zentral gelegenen Gasthof Zum Pinzger, inzwischen eine Dependance des gleich nebenan liegenden Alpenhotels Pfaffenwinkel, ein nichtsdestotrotz sauberes und ordentliches Zimmer gebucht. Und obwohl das im Haus befindliche griechische Restaurant heute Ruhetag hat, müssen wir zum Abendessen nicht weit laufen – einige einladende Gasthäuser in gemütlich-voralpenländischem Ambiente sind nur wenige Fußminuten entfernt.


