Santiago de Compostela.
Es ist noch ziemlich kalt, aber sonnig, als wir am Ostermontag frühmorgens das Hostal in Galende verlassen und damit nach über einer Woche fürs Erste auch Kastilien-León. Ein paar Bergtäler weiter westlich haben wir Galicien erreicht: Spaniens nordwestlichste Region, oberhalb von Portugal gelegen und mit dem Nachbarland kulturell enger verbunden als mit dem Mutterland selbst. Das zeigt sich nicht zuletzt an dem hier gesprochenen Galicischen – die Sprache weist wesentlich mehr Ähnlichkeiten mit dem Portugiesischen als mit dem Spanischen auf. Genau als wir die A 52 verlassen, um durch das Tal des Río Camba nordwärts zu fahren, ändert sich die Wetterlage schlagartig: Der sonnige Frühlingsmorgen verwandelt sich in eine dunkelgraue Nebelsuppe, die sich erst nach geraumer Zeit soweit lichtet, dass wir zumindest ein bisschen von der schönen Hügellandschaft, in der überwiegend Wein angebaut wird, mitbekommen.

Als wir nach zweistündiger Fahrzeit das gerade einmal 1.200 Einwohner zählende Landstädtchen Castro Caldelas erreicht haben, ist es immer noch hochnebelartig bewölkt und ziemlich kalt. Trotzdem ist hier im Zentrum einiges los: Es ist Markttag, und da ist gefühlt der halbe Ort auf den Beinen, um sich mit Kleidung, Werkzeug oder frischen Lebensmitteln zu versorgen und an einem der Stände mit großen, dampfenden Kesseln Pulpo, also Tintenfisch, zu essen. Diese galicische Spezialität ist zwar nicht ganz nach unserem Geschmack; aber über frisches Obst, Früchte und Brot freuen auch wir uns. Außerdem drehen wir eine kurze Runde, um uns zumindest von außen das durchaus sehenswerte, aus dem 14. Jahrhundert stammende Castillo de Castro Caldelas anzusehen.




Waren die Landstraßen schon zuvor recht kurvig, so werden sie jetzt noch schmaler – wir sind in der wegen der zahlreichen romanischen Klöster Ribeira Sacra genannten Gegend angekommen, die vom Río Sil durchquert wird. Er hat sich hier tief in die Mittelgebirgslandschaft eingegraben und einen beeindruckenden Canyon geschaffen, der trotz seines enormen landschaftlichen Reizes nur wenig bekannt ist. Die kleinen Orte, die weit verstreut liegen, verfügen daher kaum über nennenswerte touristische Infrastruktur.


So müssen wir in Parada de Sil schon genau schauen, um die Abzweigung auf eine schmale Stichstraße zu finden, die noch etwa einen Kilometer nördlich des Ortes bis zum Fußballplatz führt. Von dort muss man noch ein paar hundert Meter laufen, dann erreicht man zwei auch Os Balcones de Madrid genannte Aussichtspunkte, deren genaue Namen Miradoiro dos Torgas und Miradoiro do Curral do Penso lauten. Sie bieten uns die erste Gelegenheit, das breite Flusstal, das beiderseits von hochaufragenden Felswänden begrenzt wird, zu bewundern.



Nur wenige Kilometer entfernt versteckt sich in den Wäldern am Rand der Schlucht eine uralte Benediktinerabtei: Das Mosteiro de Santa Cristina de Ribas de Sil. Seine Anfänge gehen auf das 10. Jahrhundert zurück. Später mehrfach erweitert, dämmerte es zwischenzeitlich seinem Verfall entgegen, ehe es ab 1987 umfassend restauriert und für Besucher zugänglich gemacht wurde. An diesem Ort kann sich die Bedeutung des Begriffs Mönchische Abgeschiedenheit wahrlich lebhaft vorstellen…





Der nächste Aussichtspunkt, der Miradoiro de Cabezoás, wartet nur wenige Kilometer weiter am Straßenrand. Er verfügt über eine moderne Plattform; was man hier sehen kann, unterscheidet sich allerdings nicht wesentlich von dem, was wir zuvor schon bewundern konnten.

Also fahren wir gleich weiter; beim Dorf Vilouxe, wieder nur ein paar Fahrminuten entfernt, soll es einen noch tolleren Blick auf die Schlucht geben. Die Abzweigung von der Landstraße ist aber so schlecht ausgeschildert und sogar von Google Maps nur ungenau angesagt, dass wir sie beinahe verpassen. Wäre wirklich schade gewesen – denn als wir in dem wirklich gottverlassenen Nest, dessen alter Dorfkern fast nur aus leerstehenden, dem Verfall entgegendämmernden Bauernhäuschen aus vergangenen Epochen besteht, einen Parkplatz gefunden haben, müssen wir nur noch etwa zehn Minuten laufen, bis sich inmitten einer naturbelassenen Wiesenlandschaft plötzlich eine spektakuläre Aussicht auf eine Flussschleife des Río Sil auftut. An diesem Anblick kann man sich wirklich nicht sattsehen! Ist der Canyon insgesamt schon zu wenig bekannt, so gilt dies für den atemberaubenden Miradoiro de Vilouxe umso mehr!





Ehe wir den Canón do Sil, wie er in galicischer Sprache genannt wird, verlassen, ist allerdings ein Stopp am Mosteiro de Santo Estevo de Ribas de Sil unverzichtbar. Das über 1.000 Jahre alte ehemalige Benediktinerkloster, dessen Baugeschichte aus der Frühromanik bis in den Barock reicht, verfügt über drei Kreuzgänge. Es gehört zu den bedeutendsten Klosterbauten Galiciens und beherbergt in seinen Mauern heute eine Niederlassung der staatlichen spanischen Nobelhotel-Kette Parador. Als Übernachtungsplatz sicher nicht der richtige Ort für uns, aber einen Cortado in der hoteleigenen Cafeteria können wir uns schon genehmigen…






Von hier sind es noch knapp eineinhalb Stunden Fahrzeit bis zu unserem heutigen Etappenziel. Die Provinzhauptstadt Ourense, im Tal des Rio Miño gelegen, passierend, erreichen wir gegen 18 Uhr eine Stadt, die jedes Jahr von einer wahren Heerschar von Fremden besucht wird, von der Mehrzahl aber nicht mit dem Auto, sondern mit dem Wanderstab in der Hand: Wir sind in Santiago de Compostela angekommen, dem Zielort des Jakobswegs, wo wir in einem Apartamiento unifamiliar, einer Ferienwohnung etwas außerhalb des Stadtzentrums, für die nächsten drei Nächte bleiben werden.
